HOCH DAS VERFACHBUCH
Die Bemühungen der Staatsführung, das Grundbuch in Tirol einzuführen, trafen über fast 100 Jahre auf zähen Widerstand der Tiroler. Diese wollten die Ablösung des seit dem 14. Jahrhundert herrschenden, aber hoffnungslos veralterten Verfachbuchs nicht hinnehmen.
Schon im 18. Jahrhundert war mehrmals, so 1732, 1788 und 1792, angeregt worden, auch in Tirol – so wie in anderen Kronländern – das Landtafelsystem einzuführen, das bereits die wesentlichen Funktionen eines modernen Grundbuches erfüllte. Diese Bemühungen waren jeweils am Widerstand der Stände und der durch diese vertretenen Landbevölkerung gescheitert. In Anbetracht dessen war mit den Hofdekreten vom 19. April 1790 und 12. März 1792 das Verfachbuchrecht, wonach die dingliche Wirkung von Rechtsgeschäften an die Verfachung geknüpft wurde, neu formuliert worden. Die lückenhaften Bestimmungen der beiden Hofdekrete haben jedoch in der Folgezeit eine große Verunsicherung im Immobilienverkehr hervorgerufen.
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MÄNGEL DES VERFACHBUCHSYSTEMS
Gemeinsam ist dem Verfachbuchsystem und dem Grundbuchsystem die Urkundensammlung: Alle Urkunden über Liegenschaftsgeschäfte werden darin chronologisch und nach den jeweils zuständigen Gerichten gesammelt. In dieser Urkundensammlung erschöpft sich das Verfachbuchsystem im Wesentlichen. Es fehlen dort die so genannten Hauptbücher des Grundbuchsystems, „Folianten“ genannt, wo für jede Einlagezahl nummeriert und systematisch aufsteigend, mehrere Blätter reserviert sind, damit alle Liegenschaftsgeschäfte diese Einlagezahl betreffend gegliedert nach A-Blatt (Gutsbestand), B-Blatt (Eigentümerblatt) und C-Blatt (Lastenblatt) systematisch erschlossen werden können. Jede Urkunde in der Urkundensammlung findet im Grundbuchsystem im Hauptbuch ihren Niederschlag durch Eintragung der wesentlichen Rechtswirkung und den Verweis auf die Fundstelle der Urkundensammlung.
Das Verfachbuchsystem bot – wegen der fehlenden Hauptbücher – insbesondere keinen Überblick über die hypothekarischen Belastungen der Güter und schuf auch nur formales und kein materielles Recht, d.h. das verfachende Gericht untersuchte nicht den Titel, aufgrund dessen sich der Erwerb vollziehen sollte, sondern beurkundete nur die formale Gesetzmäßigkeit der Urkunde.
Dies führte gerade zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als sich die wirtschaftliche Lage des Landes durch die lange Kriegsperiode besonders verschlechtert hatte, zu Unzukömmlichkeiten, weil die hypothekarischen Belastungen einer Liegenschaft nirgends übersichtlich zusammengefasst waren. Da regte die Staatsführung sofort nach Eintritt geordneter Verhältnisse im Rahmen der Neuorganisierung des Kaiserstaates 1817 die Einführung des Grundbuchs in Tirol an. Bei diesem Unternehmen konnte man sich bereits auf bedeutende Vorarbeiten stützen. Im südlichen Landesteil hatten die französisch-italienischen Behörden bereits eigene Hypothekarbücher eingeführt und auch der Kataster stellte eine brauchbare Grundlage für das Grundbuch dar.
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ERSTE VERSUCHE ZUR GRUNDBUCHEINFÜHRUNG
Bereits die ersten Ansätze zu diesem Reformunternehmen prallten auf den heftigen Widerstand nicht nur der Stände, sondern mancher im Land tätigen staatlichen Behörden.
Die Stände, welche sich im Jahr 1819 mit der Grundbuchfrage befassten, lehnten getreu ihrer seit dem 18. Jahrhundert verfolgten Linie dezidiert und entschlossen ab. Beinahe alle Abgeordneten redeten wohl einer Verbesserung des bestehenden Verfachbuchsystems das Wort, sprachen sich jedoch ebenso deutlich gegen die Einführung des Grundbuchs aus.
Auf den ersten Blick erscheint die Begründung merkwürdig, welche der Generalreferent der Stände für die Haltung des Landtages bot. Nach dieser sollte das alte Verfachbuchystem „zur Aufrechterhaltung des Landeskredits, des Kultur- und Gewerbefleißes und der Leistungsfähigkeit der Untertanen erhalten bleiben“, als ob Rechtsunsicherheit und finanzielles Risiko dem Kreditgeschäft zuträglich wären. Ein zweiter Blick lehrt aber, dass der von Grundbesitzern dominierte Landtag die Offenlegung der hypothekarischen Belastungen, welche die Gläubiger von weiteren Krediten abhalten könnte, befürchteten. Neben der durch das Grundbuchsystem möglichen schärferen Kontrolle der Privatrechte wurde die Ablehnung des Landtags auch durch die Furcht vor höheren Steuern motiviert.
Der große Ausschusskongress von 1819 richtete daher an den Kaiser die Bitte, von der Einführung des Grundbuchs in Tirol Abstand zu nehmen. Ebenso wie im Fall des stabilen Katasters wagte es Kaiser Franz I. und seine Zentralbehörden nicht, bei der Einführung des Grundbuches mit Brachialgewalt gegen den Willen der Tiroler Stände und des Landes vorzugehen. Da das Verfachbuchsystem, wenn auch nicht optimal, so doch funktionierte, ließ man die Sache jahrzehntelang ruhen.
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1831: GRUNDBUCH UNABSEHBAR VERTAGT
Erst mit der allerhöchsten Entschließung vom 09. Dezember 1831 erhielten die Stände auf ihren dringlichen Appell an den Kaiser vom Jahr 1819 eine, die Grundbucheinführung anscheinend in weite Ferne rückende Antwort. Danach sollte die Einführung des Grundbuchs vorderhand bis zur endgültigen Organisierung der Landgerichte nach dem Einfall der letzten Patrimonialgerichte unterbleiben. Außerdem beabsichtigte Kaiser Franz I. die Erfahrungen im lombardo-venezianischen Königreich abzuwarten, wo mit Patent vom 19. Juni 1826 das Grundbuch installiert worden war. Obwohl die erste Bedingung noch keineswegs erfüllt war (die letzten Patrimonialgerichte fielen in Deutschtirol 1840, in Welschtirol erst 1848 an den Staat zurück), gingen die Wiener Zentralbehörden bereits zwei Jahre später daran, das lombardo-venezianische System mit einigen Modifikationen auf Tirol zu übertragen.
Auf dem Ausschusskongress des Jahres 1833 lehnte Joseph von Giovanelli, Merkantilkanzler zu Bozen, ein Mann mit gewichtiger Stimme im Landtag, in einem ausführlich begründeten Seperatvotum das Grundbuch ab und auch der Generalreferent Johann Anton Freiherr von Schneeburg sprach sich für die Beibehaltung des Verfachbuches aus. Indem sich die Stände schließlich hinter der bereits erwähnten allerhöchsten Entschließung von 1831 verschanzten, für die sie dem Kaiser gar eine Dankadresse übersandt hatten, versuchten sie die Sache zu verzögern. Die Staatsführung ließ jedoch nicht locker. Im Jahr darauf wurde vom Gubernium die Grundbuchfrage erneut aufgerollt, die Stände wehrten sich ebenso heftig wie in den Vorjahren gegen die Pläne der Regierung.
Die Tatsache, dass die Wiener Zentralbehörden die für Lombardo-Venetien geschaffene Gesetzesgrundlage mit wenigen Veränderungen auf Tirol übertragen wollten, erleichterte den Widerstand. Die Tiroler Stände forderten, dass bei Verfassung des Gesetzentwurfs „auf die eigentümlichen Verhältnisse des Landes, auf die bisherigen Hypotheken-Institute in Tirol, die zumal im nördlichen Tirol von jenen in Italien ganz verschieden seien, geeignete Rücksicht genommen“ werde. Angesichts dieser unmissverständlichen Rechtsverwahrung des Landtages zogen es die staatlichen Behörden vor, die Frage in Schwebe zu lassen. Die kaiserliche Entschließung vom Jahr 1831, der die Stände ja Beifall gezollt hatten, stellte dafür eine günstige Basis dar. Im Jahr 1839 anerkannte Kaiser Ferdinand erneut diesen Zustand, indem er den Beschluss seines Vaters Franz I. akzeptierte.
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REFORM DES VERFACHBUCHES?
In der Folge bemühten sich die Stände wohl, Vorschläge zur Verbesserung des Verfachbuchsystems zu erstatten; die Frage blieb aber weiterhin offen und sollte erst Jahrzehnte später, nach der Konstituierung des parlamentarischen Landtags im Jahr 1897 gelöst werden. Tirol war damit dasjenige Kronland der Monarchie, wo das Grundbuch zuletzt eingeführt werden sollte.
Beinahe zwei Jahrhunderte hatte das politische Beharrungsvermögen der Tiroler, ihrer Stände und dann später ihrer parlamentarischen Landtage, die Ablösung des Tiroler Verfachbuches verzögert. Die Einführung des Landtafelsystems wurde verhindert; das moderne Grundbuchsystem wurde mit beinahe 100jähriger Verzögerung eingeführt. Selbst in der Zeit des herrschenden Absolutismus hatten es die Stände verstanden, sich in dieser Frage Gehör zu verschaffen.
In der parlamentarischen Ära ab 1861 hatte sich der neu konstituierte Landtag von 1861 wieder mit diesem Problem konfrontiert gesehen. Nach wie vor war damals die Mehrheit gegen die Einführung des Grundbuches eingestellt gewesen; daher suchte man Ordnung in die Dinge zu bringen, indem man ein Gesetz zur allgemeinen Erneuerung der Hypotheken anstrebte. Der spätere Landeshauptmann Kiechl brachte bereits in der ersten Session des Jahres 1861 einen diesbezüglichen Antrag ein, der auch angenommen wurde; beauftragt wurde ein sechsköpfiger Ausschuss. Allerdings bekundete das Justizministerium die Absicht, auch in Tirol (wie in den anderen Kronländern) das Grundbuch einzuführen.
Die Regierung Schmerling forderte im Jahr 1863 vom Landtag ein Gutachten über ein Reichsgesetz zur Einführung des Grundbuchs ein. Der Landtag, der auf sein Mitspracherecht über die grundsätzliche Frage „Beibehaltung des Verfachbuches oder Einführung des Grundbuchs“ bestand, zeigte wenig Interesse an einer schnellen Erledigung.
Die durch die Dezembergesetze 1867 erfolgte Verfassungsänderung brachte die Neuerung, dass nach dem neuen Grundgesetz der Landtag zumindest für die innere Einrichtung der öffentlichen Bücher kompetent wurde, sodass im Jahr 1868 zwar die Hypothekenerneuerung realisiert, die Einführung des Grundbuchs aber wieder auf die lange Bank verschoben wurde. Erst 1884 beschäftigte sich ein Ausschuss des Landesausschusses wieder mit der Frage; im Jahr 1886 kam die Frage der Grundbuchseinführung erneut im Plenum des Landtags zur Sprache, wo der Ausschuss allerdings erst wieder im Jahr 1892 einen umfassenden Bericht ablieferte.
Der Grundbuchsauschuss war im Jahr 1892 mit vier verschiedenen Anträgen an das Plenum des Landtags herangetreten; vor allem der Abgeordnete Franz von Zallinger trat vehement gegen das Grundbuch auf. Statt das Grundbuchsysteme einzuführen, sollte das Verfachbuch reformiert werden. Mit Vorschlägen zur Verfachbuchreform wurde der Abgeordnete Dr. Joseph Wackernell beauftragt; als dieser im Landtag von 1893 erklärte, dass eine Verfachbuchreform unmöglich wäre, war das Eis gebrochen. Die Einführung des Grundbuchs wurde in das große Agrarreformprogramm des Jahres 1896 aufgenommen.
Aus: Richard Schober, Geschichte des Tiroler Landtages im 19. und 20. Jahrhundert, Universitätsverlag Wagner, Innsbruck 1984.
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MP