Hauptmänner der guten alten Zeit
von
Dr. Bernd Oberhofer
Wenn von der „guten alten Zeit“ die Rede ist, so gilt dies – Tirol im Blick – insbesondere für die 25-jährige Periode vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges. Diese Periode steht für einen enormen wirtschaftlicher Aufschwung. Es ist dies die Periode der beiden Langzeithauptmänner Anton Graf von Brandis, Landeshauptmann von 1889 bis 1904, und Theodor Freiherr von Kathrein, Landeshauptmann von 1904 bis 1916. Für die Industrie und das tägliche Leben war die größte Neuerung wohl die Einführung der Elektrizität zur Beleuchtung und als Antriebskraft für Straßen- und Kleinbahnen sowie für Fabriken und Werkstätten. In rascher Folge wurden Elektrizitätswerke zur Nutzung der Wasserkräfte errichtet, beispielsweise 1889 und 1887 am Mühlauer Bach und 1903 an der Sill für Innsbruck, 1898 am Vomper Bach für Schwaz, 1905 das Planseewerk bei Reutte, 1902 das Wiesbergwerk bei Landeck, 1898 das Pöllwerk und 1909 das Schnallstalwerk für die Städte Bozen und Meran sowie 1912 das Ruetzwerk für die Karwendelbahn.
TIROLER BAHN- und STRASSENBAUPROGRAMM
Die Hauptstrecken der Eisenbahnen Tirols waren schon in der früheren Epoche (1855 bis 1884) gebaut worden; nun kamen hinzu: 1891: die Bahn Rovereto-Riva, 1896: die Valsuganabahn Trient-Tezze, 1906: die Strecke Meran-Mals durch den Vintschgau, 1912 die Karwendelbahn Innsbruck-Seefeld-Garmisch-Ehrwald-Reutte. Schmalspurige Seitenbahnen wurden erbaut 1898: Bozen-Kaltern; 1889: Jenbach-Achensee; 1900: Innsbruck-Igls; 1901: Jenbach-Mayrhofen (Zillertalbahn); 1904: Innsbruck-Fulpmes; 1891: Straßenbahn Innsbruck-Hall; 1906: Meran-Lana; 1908: Bruneck-Taufers. Auch Seilstand- und Seilschwebebahnen wurden gebaut. 1903: die Mendelbahn in Kaltern; 1906: die Innsbrucker Hungerburgbahn; 1907: die Rittnerbahn sowie die Bahn auf den Kohlern (Bozen); 1912: die Bahn auf das Virgiljoch bei Meran.
Im Jahr 1897 und nochmals 1908 beschloss das Land zwei gewaltige Straßenbauprogramme in den Seitentälern. Das erste wurde mit Gesetz vom 22. August 1897, LGBl Nr 31, auf den Weg gebracht. Dieses sah den Bau von 19 größeren und kleineren Straßen vor, die in einer Zeit von 15 Jahren ab 1898 vollendet werden sollten. Darunter befanden sich die Jaufenstraße von Sterzing nach Passeier, die Gampenstraße ab Meran, die Straßen Lana-Ulten und Bozen-Sarntal, die Stubaitaler Straße, die Völser Straße, die Lechtaler Straße von Steeg bis Warth, die Zillertaler Straße, die Gerlosstraße von Zell zur Landesgrenze, die Tilliacher Straße von Sillian ins Lesachtal, die Ötztaler Straße, die Pitztaler Straße. In Summe umfasste das Bauprogramm 455 km neuer Straßen. Insoweit diese Straßen militärisch von besonderer Bedeutung waren, bezahlte „Wien“ 55 bis 70% der Kosten, für die anderen 25 bis 35%. Die Betragsleistung des Landes Tirol betrug von 20 bis 50%; den Rest mussten die jeweiligen Nachbarschaften als „Interessenten“ aufbringen.
Vom Straßenbauprogramm des Jahres 1908 waren insbesondere schmälere Straßen mit einer Breite von damals 3,8 Meter betroffen. Das Hauptgewicht lag weiter auf der Erschließung der Seitentäler. Die meisten Straßen dieses zweiten Programms wurden noch bis zum Beginn des ersten Weltkriegs fertiggestellt. Sowohl in Nordtirol als auch in Ost- und Südtirol, aber auch in Welschtirol waren eine ganze Reihe wichtiger Täler betroffen. So wurden errichtet die Eiberg-, Pillersee-, Tuxer-, Gschnitzer-, Sölden-, Zieselstein-, Kalser-, Defreggen-, Enneberg- sowie die Suldenstraße – alle in „Deutschtirol“; hinzu kamen in Welschtirol ingesamt zehn weitere, bedeutsame Straßen. Grundlage des zweiten Straßenbauprogramms war das vom Landtag 1904 beschlossene neue Straßenbaugesetz.
WASSERSCHUTZBAUPROGRAMM
Alles in den Schatten stellten in diesem Zeitraum jedoch die Aufwendungen des Landes für Wasserschutzbauten. Überschwemmungskatastrophen an den großen Flüssen Etsch, Eisack, Rienz und Drau sowie am Inn in den Jahren 1882, 1883, 1885, 1888 und 1890 hatten umfangreiche Wasserschutzbauten an diesen Flüssen veranlasst; dies bereits in den 1880er Jahren. Die Etschregulierung war mit fünf Gesetzen aus dem Jahr 1879 auf den Weg gebracht worden. Im Jahr 1891 hatte der Landtag durch ein Wiederherstellungs- und Instandhaltungsgesetz betreffend Regulierungs- und Wildwasserverbauungen, LGBl 1891 Nr. 2 vom 08.01.1891, die Wildbachverbauung ins Auge gefasst. Weil die jeweiligen Nachbarschaften als Interessenten stark in die Pflicht genommen werden sollten, war dieser erste Anlauf wenig erfolgreich. 1912 beschloss der Landtag ein neues „Erhaltungsgesetz“ mit welchem die Lasten zwischen dem Staat, dem Land und den jeweiligen Nachbarschaften besser verteilt wurden. Das Gesetz organisierte auch einen „Aufseherdienst“, der zugleich für den Schutz der Wälder zu sorgen hatte. Durch diese Maßnahme nahm der Wasserbau in Tirol einen derartigen Aufschwung, dass er knapp vor dem ersten Weltkrieg nicht nur in Österreich, sondern in ganz Europa als führend angesehen wurde.
Für den Unterlauf des Inns hat der Staat wegen der Schifffahrt bereits im 18. und 19. Jahrhundert gut gesorgt; für den Oberlauf war jedoch bis auf die Strecke Telfs-Zirl nichts geschehen. Auch hier war regulierend einzugreifen. Der Tiroler Landtag war in der Zeit nach 1900 beinahe in jeder Session mit Anträgen zur Innregulierung „von Pfuns bis zur Landesgrenze“ beschäftigt. Bis zum Jahr 1914 waren die Arbeiten an größeren Teilstrecken wie Pfuns-Ried, Ried-Prutz und Haiming-Rietz abgeschlossen. Noch im letzten Landtag vor dem Krieg wurde ein Dringlichkeitsantrag zur Beschleunigung der Arbeiten angenommen.
Mit den neuen Straßen, den Eisenbahnverbindungen und den Wasserschutzbauten wurden die Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Aufschwung geschaffen, der Fremdenverkehr wurde gefördert und die Bauern konnten ihre Produkte leichter auf die Märkte bringen. Bisher schwer nutzbare Wälder wurden wertvoll, die bisher kaum absetzbare Milch und Butter konnte in die Städte, vor allem nach Innsbruck, gebracht werden. Interessant ist, dass die neuen Straßen den zur Selbstversorgung betriebenen Getreideanbau in den Tälern zum Erliegen brachten, da nun billiges ausländisches Getreide in die Seitentäler geliefert werden konnte.
ERRICHTUNG DES „LANDESKULTURRATES“
Die „gute alte Zeit“, das ist für Tirol vor allem die 25-jährige Periode vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges, die für einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung steht und von den beiden „Langzeithauptmännern“ Anton Graf Brandis, Landeshauptmann von 1889 bis 1904, und Theodor Freiherr von Kathrein, Landeshauptmann von 1904 bis 1916, dominiert wurde. Die Straßenbauprogramme dieser Zeit, die Eisenbahnbau- und die Wasserschutzbauprogramme bildeten einen Grundstock dieser Entwicklung; die Neuerungen im Bereich des Schulwesens und bei den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen einen anderen.
Schon am 24.September 1881 hatte der Tiroler Landtag ein Gesetz über die Errichtung eines Tiroler Landeskulturrates und der Bezirksgenossenschaften dazu beschlossen – die Vorläufer der heutigen Strukturen der Landwirtschaftskammer. Grundzerstückelung und Überschuldung waren damals die vordringlichsten Probleme in der Tiroler Landwirtschaft. Hochwasserkatastrophen, sinkende Agrarpreise und die höchsten Lohnsätze für landwirtschaftliche Arbeiter in ganz Österreich hatten viele Tiroler Landwirte in Bedrängnis gebracht. Hinzu kam ein schlechter Zustand der Wälder infolge übermäßiger Holznutzung und exzessiver Waldweide bei Vernachlässigung der laufenden Aufforstung. Im Jahr 1883 hatte die Stadthalterei die Anstellung von 83 Forstwarten zur Überwachung von Wasserschutzbauten, Forstkulturen und Pflanzgärten gefordert, was vom Tiroler Landtag am 17. Juni 1884 umgesetzt wurde. Im Jahr 1885 wurde eine Gesetzesinitiative betreffend die Bestrafung gemeingefährlicher forstlicher Übertretungen umgesetzt.
EIN NEUES SCHULGESETZ FÜR TIROL
Zum Teil war die Krise der Tiroler Landwirtschaft, dem Hauptträger der damaligen wirtschaftlichen Entwicklung Tirols, hausgemacht: Über 100 Jahre lang hatten die Tiroler Stände die grundlegende Erneuerung der öffentlichen Grundeigentumsregister verhindert. Dem Hypothekarkreditwesen fehlte daher in Tirol die geeignete Basis. Die Tiroler Sparkassen stellten nicht zuletzt wegen der fehlenden Rechtssicherheit weniger als die Hälfte ihres Kreditvolumens Kreditnehmern von außerhalb Tirols zur Verfügung. Bevor der Tiroler Landtag jedoch die Erneuerung des öffentlichen Liegenschaftsregisters in Angriff nahm, wurde das Tiroler Volksschulwesen nach einem fast 25jährigen Streit mit der liberalen Zentralregierung auf eine neue Rechtsgrundlage gestellt. Entgegen den Vorgaben aus Wien – dem Reichsrat stand für das Volksschulwesen nur die Kompetenz zur Rahmengesetzgebung für das Volksschulwesen zu – verlangte die konservative Mehrheit im Tiroler Landtag, dass das Volksschulwesen weiterhin unter der Kontrolle der katholischen Kirche stehe. Demonstrativ wählte das vom Tiroler Landtag am 25. Mai 1868 eingesetzte Schulkomitee zur Beratung eines Landesgesetzes zum (Reichs-) Schulaufsichtsgesetz, den Fürstbischof von Brixen, Vinzenz Gasser, zu seinem Obmann. Die von den Tirolern geforderten, für die liberale Reichsregierung in Wien inakzeptablen, Bedingungen waren: ein gesetzlicher Automatismus, wonach der Ortsgeistliche auch Vorsitzender des Ortsschulrates sein müsse; Ernennung der Bezirksschulinspektoren ausschließlich aus dem Kreis der Ortsschulrats-Vorsitzenden (= Ortsgeistlichen); schließlich sollte den drei Landesbischöfen von Brixen, Salzburg und Trient „als Wächter von Religion und Sittlichkeit“ im Landesschulrat zwingende Mitgliedschaft samt einem Vetorecht zustehen.
Weil über diese extremen Forderungen keine Einigung mit der Wiener Zentralregierung erzielt wurde, gründete die neue staatliche Schulaufsicht in Tirol seit dem Jahr 1869 auf einer Notverordnung des Wiener Unterrichtsministeriums. Erst am 7. April 1892 konnte sich der Tiroler Landtag zur Verabschiedung eines neuen Tiroler Schulgesetzes durchringen. Die Führer der konservativen Landtagsmehrheit, Landeshauptmann Anton Graf Brandis und Dr. Theodor Kathrein hatten in den Reihen der Abgeordneten der Konservativen einen entsprechenden Kompromiss durchgesetzt. Der Papst selbst hat Dr. Theodor Kathrein für seinen Einsatz im Zusammenhang mit der Beendigung des Tiroler Schulstreits und der Erwirkung des neuen Tiroler Schulgesetzes mit dem Kommandeur-Kreuz des Georg-Ordens ausgezeichnet; der Kaiser würdigte die Verdienste von Landeshauptmann Anton Graf Brandis um das schwierige Werk durch Verleihung der Würde eines Geheimen Rates.
EINFÜHRUNG DES MODERNEN GRUNDBUCHES
Zur Behebung des enormen Kapitalmangels in der Tiroler Landwirtschaft wurde bereits Anfang der 1880er Jahre die Errichtung einer Tiroler Landes-Hypothekenanstalt diskutiert. Detailfragen der Umsetzung zeigten jedoch schnell, dass die Modernisierung der öffentlichen Liegenschaftsregister samt einer klaren Regelung des Rechts der Liegenschaftshypotheken zwingende Voraussetzung für die Beseitigung der Kapitalnot in der Tiroler Landwirtschaft war.
Im Herbst 1891 hatten Nachwahlen von Abgeordneten zum Tiroler Landtag in der Wahlkurie des „Adeligen Großgrundbesitzes“ stattgefunden. Einer der Neugewählten war der Meraner Advokat und Apfelproduzent Dr. Karl von Grabmayr, dem der Umstand schon lange ein Dorn im Auge war, dass in allen österreichischen Ländern seit Maria Theresia bereits moderne Grundbuchsystem existierte und nur in Tirol und Vorarlberg das „Verfachbuchsystem“ aus dem 14. Jahrhundert fortgeführt wurde. Dr. Karl von Grabmayr erwies sich als der genialste politische Kopf seiner Zeit und als glänzender politischer Redner. Neben seinen Aktivitäten im Landtag publizierte er zwei Schriften, um dem Tiroler Grundbuch Bahn zu brechen („Verfachbuch oder publica fides? [1893] und „Das Grundbuch im Tiroler Landtag“ [1894]).
Mit einer glänzenden Rede am „Entscheidungstag“ 05. Februar 1896 gewann Karl von Grabmayr die Unterstützung der bäuerlichen Abgeordneten für das Reformwerk, sodass er einen 100jährigen Kampf um diese Neuerung mit einem klaren Abstimmungssieg von 30 gegen 12 Stimmen zu einem erfolgreichen Ende brachte. Die Zeitgenossen nannten Dr. Karl von Grabmayr deshalb auch den „Vater des Tiroler Grundbuches“.
EIN HÖFERECHT FÜR TIROL
Ebenfalls in mehrjährigen Beratungen wurden in dieser Zeit das Tiroler Höferecht und das Tiroler Anerbenrecht geschaffen (1896 bis 1900); rechtspolitisches Ziel war es, die Zerstückelung der Tiroler Höfe aufzuhalten und eine leistungsfähige Landwirtschaft zu erhalten.
Auch das neue Tiroler Höferecht samt dem Tiroler Anerbenrecht waren ganz wesentlich der Initiative und Überzeugungskraft des Abgeordneten Dr. Karl von Grabmayr zu verdanken.
VERSTÄRKUNG DES TIROLER BANKENSYSTEMS
In eine Erfolgsgeschichte mündeten auch die beharrlichen Bemühungen des Tiroler Landtages zur Schaffung einer Tiroler Landeshypothekenbank, die 1901 zum erfolgreichen Abschluss kamen. Zweck der Landesbank war es ursprünglich, unter Ausnutzung der neuen Grundbücher die zahlreichen Privathypotheken planmäßig in unkündbare, niedrig verzinsliche und in Annuitäten rückzahlbare Anstaltshypotheken umzuwandeln. Dies bewirkte eine bedeutende Entlastung und Stärkung der Tiroler Wirtschaft.
Bereits Ende der 1880er Jahre hatten die Raiffeisenbanken das Gebiet des ländlichen Kreditwesens in Tirol grundlegend verändert: 1888 wurde die erste Raiffeisenbank Tirols in Ötz gegründet; kurz danach folgten Gründungen von Raiffeisenkassen in Inzing, in Mils bei Hall, in Kirchberg sowie an zahlreichen anderen Orten. Der große Wert der Raiffeisen-Einrichtungen für den Bauernstand wurde in Tirol schneller als anderswo erkannt und Dank der tatkräftigen Förderung durch Landeskulturrat und Landtag gewannen die Raiffeisenkassen von Jahr zu Jahr wachsende Verbreitung.
ENTSCHULDUNG DER TIROLER LANDWIRTSCHAFT
Die Frage der Entschuldung des Tiroler Bauernstandes war der sozialpolitische „Dauerbrenner“ des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die politischen Protagonisten, die sich mit gegensätzlichen Reformprogrammen gegenüberstanden, waren Dr. Karl von Grabmayr, prominentester Exponent der „Liberalen“ einerseits und Professor Prälat Dr. Aemilian Schöpfer, führender Politiker der „Christlichsozialen“ andererseits.
Während die Protagonisten unterschiedliche Reformkonzepte diskutierten und dazu Schriften publizierten (Dr. Karl von Grabmayr: „Schuldnot und Agrarreform“ [1894], „Landwirtschaft und Realexekution“ [1894], „Die Agrarreform im Tiroler Landtag“ [1896], „Das Recht der Klerikalen“ [1897] sowie „Bodenentschuldung und Verschuldensgrenze“ [1900]; Professor Dr. Aemilian Schöpfer in einer sechsteiligen Artikelserie in der Brixner Chronik [1896]), bewirkten die geschaffenen Verbesserungen im Bereich des Kreditwesens, die neuen Straßen und Eisenbahnen, die Hoch- und Wildwasserschutzbauten, die Ausnutzung der Wasserkräfte, die bessere Verwertung der Milchprodukte und des Obstes, die Hebung der Viehzucht und des Weinbaues, eine Auswanderungswelle in Welschtirol und nicht zuletzt der in dieser Zeit stark anwachsende Fremdenverkehr, dass sich der Bauernstand von selbst wirtschaftlich erholte.
Dazu tat ein Übriges die gezielte gemeinschaftliche Förderung der Landwirtschaft durch die Bezirksgenossenschaften des Landeskulturrates (heute: Landwirtschaftskammer), für welche im Jahr 1896 – nicht zuletzt auf Drängen des christlichsozialen Abgeordneten Dr. Aemilian Schöpfer und des liberalen Abgeordneten Dr. Karl von Grabmayr – Zwangsmitgliedschaft aller Landwirte vorgesehen wurde.
Im Jahr 1913 konnte deshalb der Abgeordnete Franz Schumacher in den „Neuen Tiroler Stimmen“ erklären: „Die Hypotheken, die jetzt begründet werden, sind ihrer Mehrzahl nach nicht Zeichen bäuerlicher Not, sondern Zeichen wirtschaftlichen Aufschwungs!“
1909: DIE AGRARISCHEN OPERATIONEN
Zum Abschluss gebracht wurden die agrarischen Reformen dieser Zeit mit drei Gesetzen, die der Tiroler Landtag im Jahr 1908 verhandelte. Diese waren: Das Gesetz vom 11. Mai 1909 betreffend den Schutz der Alpen und die Förderung der Alpwirtschaft (LGBl 60/1909), das Gesetz vom 10. Juni 1909 betreffend die Teilung gemeinschaftlicher Grundstücke und die Regulierung der hierauf bezüglichen Benützungs- und Verwaltungsrechte (LGBl 61/1909) und das Gesetz vom 19. Juni 1909 betreffend die Zusammenlegung landwirtschaftlicher Grundstücke (LGBl 62/1909).
Diese Gesetze betreffend die so genannten „agrarischen Operationen“ gründen auf den drei agrarischen Reichsgesetzen des Jahres 1883 und stellen Ausführungsgesetze dazu dar, mit deren Inkraftsetzung Tirol sich über 25 Jahre Zeit gelassen hatte, wohingegen beispielsweise Kärnten diese Gesetzes bereits 1884 als Landesgesetze umgesetzt hatte. Professor Dr. Aemilian Schöpfer stellte zur Bedeutung dieser Gesetze im Tiroler Landtag fest, dass diese Gesetze agrarpolitische Maßnahmen regeln, welche die Rechtsverhältnisse in Bezug auf das Eigentum und die Benützung des landwirtschaftlichen Grund und Bodens neu regeln würden. Die Durchführung dieser Maßnahmen war eigenen Behörden übertragen, die heute als „Agrarbehörden“ bezeichnet werden.
KOMPROMISS MIT WELSCHTIROL?
Wo viel Licht ist, ist auch Schatten. Die glänzenden Leistungen der Tiroler Politik in den Jahren 1890 bis 1914 waren überlagert vom Streit zwischen Deutsch-Tirol und Welsch-Tirol. 1899 hat ein gemeinsamer Ausschuss des Landtages unter der Führung der Abgeordneten Dr. Theodor Kathrein von den Konservativen, Dr. Karl von Grabmayr von den Liberalen und Dr. Brugnara aus dem Kreis der italienischen Abgeordneten einen von Dr. Grabmayr ausgearbeiteten Entwurf für eine Autonomie des italienischen Landesteils angenommen. Gouverneur Franz Graf Merveldt wollte eine Autonomie für das Trentino jedoch unbedingt verhindern und betrieb durch eine Steuerung der öffentlichen Meinung gezielte Obstruktion, verbunden mit einer massiven Enttäuschung der italienischen Volksgruppe. Im Dezember 1901 wurde Graf Merveldt zwar als Gouverneur und Statthalter abberufen; aber auch der Kaiser und der Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand wollten von Zugeständnis an die nationalen Bestrebungen der Italiener in Trentino wenig wissen. Man fürchtete den Keim einer Abspaltung des Trentino.
Unglücklicher Weise entstand in dieser Zeit ein neuer Zankapfel zwischen den Deutschen und Italienern wegen des Anspruchs der Italiener auf eine eigene Universität oder wenigstens eine Rechtsfakultät mit italienischer Vortragssprache. Lehrkanzeln mit italienischer Vortragssprache waren schon 1867 an der Universität Innsbruck errichtet worden. Die Welsch-Tiroler verlangten für eine eigene Rechtsfakultät den Sitz in Triest, die Staatsregierung aber wollte eine solche nur in Innsbruck, was wieder die Deutsch-Tiroler wenig wünschten, um den nationalen Charakter der Landeshauptstadt nicht zu verwischen. So kam es bei der Eröffnung der italienischen Rechtsfakultät in Innsbruck Anfang November 1904 zu Kundgebungen auf beiden Seiten. Die italienischen Studenten schossen in der Aufregung in eine Gruppe von deutschen Demonstranten und verletzten mehrere. Darob entstanden weitere Kundgebungen auf den Straßen Innsbrucks und Militär wurde zur Räumung der italienischen Rechtsfakultät eingesetzt, wobei der Maler August Pezzey durch einen Bajonettstich getötet wurde. Eine Gruppe von radikalen Deutschen demolierte auch noch die Inneneinrichtung des Fakultätsgebäudes in der Liebeneggstraße. Eine andere Streitigkeit, die die Wogen zwischen den Volksgruppen hoch gehen ließ, war die Trassenführung bei der Erbauung der Lokalbahn in das Fleimstal.
So ist im Jahr 1901 jener Entwurf für eine Autonomie des Trentino zurückgestellt und bis zum Ausbruch des großen Krieges 1914 nicht mehr dem Landtag vorgelegt worden.
Wer heute die ethnisch begründeten Konflikte in der Welt im Blick hat, muss sich mit Bedauern eingestehen, dass auch die Tiroler gescheitert sind, ihren hausinternen Nationalitätenkonflikt friedvoll zu lösen!
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Bernd Oberhofer