Da Boarische Rummel. August 1703: Tirol kämpft sich frei
von
Dr. Bernd Oberhofer
Unmittelbar nachdem Kurfürst Max Emanuel von Bayern am 19. und 20. Juli zum Brenner aufgebrochen war, schlugen die Nordtiroler los. Max Emanuel hatte sich schon als 21jähriger im Großen Türkenkrieg 1683 den Ruf eines herausragenden Feldherrn erworben. Nach der Erstürmung Belgrads im Jahr 1688 wurde er als „Türkenbezwinger“ in ganz Europa bekannt. Der Kaiser ernannte ihn zum Generalissimus und der Kaiser verlieh Max Emanuel den Orden eines Ritters vom Goldenen Vlies. Max Emanuel von Bayern war ein Kriegsheld. Das Schicksal hatte diesen Mann zum Feind der Tiroler erkoren.
Am 21. Juli im Feldlager am Brenner erreichte Max Emanuel die Nachricht vom Aufstand im Inntal. Er brach sofort den Angriff am Brenner ab und eilte ins Inntal zurück, wo er am Abend des 22. Juli den Großteil seiner Stellungen aufgehoben fand. Nur Innsbruck und die Festungen Kufstein und Ehrenberg waren noch in seiner Hand. In Mühlau standen 2000 gutbewaffnete Bauern, um den Bayern den Zugang Richtung Hall zu versperren. Westlich von Innsbruck hatten die Tiroler, unterstützt durch rund 550 Mann kaiserlichem Militär unter Oberstwachtmeister Johann Franz Freiherr von Heindl, die von Brixen über Finstermünz ins Oberinntal entsandt worden waren, Verteidigungsanlagen errichtet: auf der Nordseite des Inns bei der Martinswand und im Süden am Fuße der Schwarz Kreuz Kapelle in Völs. Das Gelände ließ dort nur schmale Durchgänge zwischen Inn und der steil aufragenden Bergseite. Max Emanuel teilte seine Truppen. Persönlich war er am Angriff auf die Völser Schanze beteiligt. Die dort einliegenden Schützen aus den Gemeinden südlich von Innsbruck, Axams, Oberperfuß, Oberhofen und Inzing wurden nach einem zweistündigen Gefecht aus der Schanze vertrieben.
Die Verteidigungsschanzen fallen
Um damals südlich des Inn Richtung Westen zu gelangen, musste der Kurfürst den so genannten „reißenden Ranggen“ passieren. Der beinahe senkrecht in den Inn abstürzende Murbruch erlaubte nur an seinem Fuß einen schmalen Durchgang. Am 23. Juli 1703 hatte sich dort der kaiserliche Revierförster Anton Lechleitner verschanzt, bekannt als der „Jäger von Martinsbühel“. Der tapfere Mann wollte im Alleingang den Kurfürsten erschießen. Max Emanuel, zufällig in einen gemeinen Reitermantel gehüllt, passierte die Stelle hinter seinem Kammerherrn Graf Ferdinand von Arco, der durch sein glänzend gesticktes Wams Lechleitner täuschte. Lechleitner schoss statt dem Kurfürsten dem Grafen von Arco die tödliche Kugel in die Brust.
Obwohl ihm sein Kammerherr weggeschossen wurde, rückte Max Emanuel weiter vor. Die Eroberung der Völser Schanze gab die Chance, die Verteidiger bei der Martinswand im Rücken zu fassen. Max Emanuel befahl den Dragonern den Inn zu durchschwimmen. Gleichzeitig brachte er auf Völser Boden die Artillerie in Stellung. Von Osten durch bayerisch-französische Infanterie, vom Westen von den bayerischen Dragonern angegriffen und von Völs aus unter Artilleriebeschuss genommen, mussten die Tiroler und die Kaiserlichen an der Martinswand weichen. Der Großteil der Verteidiger konnte über die Martinswand entkommen, um sich in Telfs wieder zu sammeln. Damit das Pulver und das Blei, das in der Festung Fragenstein/Zirlgelagert war, nicht den Bayern in die Hände falle, wurden die Vorräte in der Festung gesprengt. Max Emanuel hat für den Durchbruch hohen Blutzoll geleistet: Die bayerisch-französische Seite verlor am „Schwarzen Kreuz“ und am Fuße der Martinswand an diesem 23. Juli 1703 circa 800 bis 900 Mann; die Tiroler Seite hingegen beklagte circa 80 kaiserliche Soldaten und circa 50 Schützen.
Bluttag und Schwerttag in Tirol
Nach der Eroberung der beiden Schanzen am 23. Juli 1703 stand dem Feind das Oberinntal bis vor Telfs ungeschützt offen. Die Bayern und Franzosen verwandelten jetzt die Dörfer Zirl, Kematen, Afling, Unterperfuss und Völs in Schutt und Asche. Alleine in Zirl fielen 184 Häuser den Flammen zum Opfer. In Völs sollen mit den Anwesen 100 Stück Vieh in den Ställen verbrannt sein. Die Bewohner dieser Dörfer hatten extreme Grausamkeiten zu erdulden. Dasselbe Schicksal bescherten die Richtung Scharnitz vorrückenden Feindtruppen den Bewohnern von Leiten, Reit und Seefeld. Max Emanuel zog hingegen mit dem Gros seiner Armee nach Innsbruck zurück, wo er am nächsten Tag, dem 24. Juli, sogleich wieder zur Blutarbeit schreiten musste: Die bei Mühlau aufgestellten Unterinntaler Bauern hatten in seiner Abwesenheit das bayerisch-französische Lager bei Wilten angegriffen. Max Emanuel eilte mit Geschütz und Reiterei in den Saggen, einen Teil seiner Dragoner schickte er über die Weiherburg den Bauern in den Rücken. Die Bauernaufgebote wurden so zum Rückzug genötigt.
Tags darauf nahm Max Emanuel wohl zur Kenntnis, dass die in Waffen stehenden Tiroler sich nicht mehr unterwerfen würden. Die Aufgebote, wenn sie auch an einem Punkte weichen, würden sich nur hinter seinem Rücken wieder sammeln, um zurückzuschlagen. Zusätzlich war am Brenner eine Wendung eingetreten. Die dort lagernden Tiroler hatten die lange versprochene Militärhilfe vom Kaiser erhalten. Am 23. Juli waren mehrere tausend Mann befehligt von General Laurenz Viktor Graf von Solari, in Brixen eingetroffen. Schon am 22. Juli war die Vorhut von rund 1000 Mann in Brixen erschienen. Die Kaiserlichen unter General Solari und General Wenzel Hroznata Graf von Guttenstein griffen noch am 25. Juli am Brenner gemeinsam den Tirolern an. Max Emanuel verlegte in der Nacht vom 25. auf den 26. Juli sein Lager von den Wiltener Feldern nach Hötting; gleichzeitig zogen sich seine Truppen vom Brenner bis Matrei zurück. Die Bauern von Steinach eroberten dabei die Feldkapelle Max Emanuels und erschlugen den Großteil der 50 Dragoner, die zu deren Bedeckung abgestellt waren. Am 26. Juli stießen die aus dem Wipptal zurückgezogenen bayerischen Truppen zur Hauptmacht in Hötting. Noch in der Nacht vom 26. auf 27. Juli zog Kurfürst Max Emanuel mit all seinen Männern, der Feldartillerie und dem Tross Richtung Scharnitz und Mittewald ab. General Solari wandte sich nun mit dem Großteil des kaiserlichen Militärs Richtung Süden, von wo Nachricht einer Bedrohung des italienischsprachigen Landesteils gekommen war. General Ludwig von Vendôme von der französischen Armee in Norditalien, war Mitte Juli mit 20.000 Mann aufgebrochen, um Tirol im Süden anzugreifen. General Guttenstein hingegen marschierte mit 1.500 Mann Kaiserlichen und großen Südtirolischen Schützenscharen unter ihren Anführern Josef Anton von Cazan zu Griesfeld, Ignaz Anton von Troyer, Franz Adam Wilhelm von Brandis, nach Innsbruck, wo am 27. Juli Einzug gehalten wurde.
Max Emanuel auf dem Seefeld
Im allgemeinen Jubel vergaß General Guttenstein die Verfolgung des Feindes. Am nächsten Tag, den 28. Juli, wurde Oberst Wetzel mit einer kleinen Streitmacht von 500 Mann Fußvolk und 50 Reitern den Bayern nach gesandt. Das übrige Militär verzettelte Guttenstein durch die Besetzung von Hall und Rattenberg. Die Schützen aus dem Etschland entließ er am 30. Juli nach dem Süden, wohin General Solari vorausgeeilt war. Max Emanuel war bei seinem Abzug Richtung Scharnitz jedoch nur langsam vorgerückt; der kleine Trupp von Kaiserlichen erreichte ihn bald. Als der Kurfürst von der Schwäche der Verfolgungstruppe und vom Abzug der Etschländer Schützen erfuhr, änderte er seine Strategie. Der bayerische General Johann Wilhelm Freiherr von Lützelburg warf sich am 30. Juli mit 4.000 Mann auf das kleine Häuflein der österreichischen Verfolger, das auseinandergesprengt wurde. Die bayerische-französische Armee lagerte sich nun bei Seefeld und machte von dort aus Streifzüge ins Inntal. Der Kurfürst schöpfte wieder Hoffnung auf eine Vereinigung mit den Franzosen in Oberitalien.
In Innsbruck verfiel man ob dieser Wendung von Freudentaumel in größte Bestürzung. Die Anführer der Aufgebote und General Guttenstein gerieten aneinander. Gutenstein wurden bittere Vorhaltungen gemacht. Seine Befehle wurden missachtet. Der General hatte keine bessere Idee, als das reguläre Militär hinter dem Brenner in Sicherheit zu bringen und den Bürgern von Innsbruck und Hall Verhandlungen mit dem Kurfürsten zu empfehlen. Anstatt sich um Verteidigungsmaßnahmen zu kümmern, eilte Guttenstein am 4. August persönlichzu „Konsultationen“ nach Sterzing, wo bereits am 1. August General Hannibal Joseph Sigbert Graf von Heister über Kärnten und das Pustertal mit einer weiteren bedeutenden kaiserlichen Streitmacht eingetroffen war. General Heister und seine Armee sollten die nach Süden abgerückten kaiserlichen Truppen unter General Solari ersetzen.
Die Vertreibung des Kurfürsten
Nach dem „Rückzug“ Guttensteins nahmen die Innsbrucker und Haller Bürger ihre Verteidigung selbst in die Hand. Die Bürgeraufgebote koordinierten sich mit den Bauernaufgeboten. Die Oberinntaler besetzten alle wichtigen Punkte des südlichen Innufers von Pfaffenhofen bis Innsbruck. Alle Innbrücken wurden abgeworfen. Die Innsbrucker und die Haller übernahmen den Wiederaufbau der Schanzanlagen bei der Martinswand. Von Innsbruck und Hall wurde Artillerie zur Martinswand geschleppt. Sterzinger und Pustertaler Schützen unterstützten die Verteidigung der Schanze gemeinsam mit den Bauern der Gerichte Sonnenburg, Axams und Hörtenberg. Einem Vorstoß der Bayern auf Innsbruck wurde so wirksam vorgebeugt. Alleine die Streifzüge der Bayern und Franzosen im Raum nördlich des Inns zwischen Telfs und der Martinswand konnte man nicht verhindern. Auch Seefeld, Leutasch und Mösern waren der bayerischen Brand- und Mordlust ausgeliefert.
In der zweiten Augustwoche hatte sich die Situation der Verteidiger um Innsbruck gefestigt. Man dachte jetzt an einen Angriff auf Max Emanuells Heer auf dem Seefeld. Alle Augen richteten sich auf die kaiserlichen Soldaten, die zahlreich um Sterzing aufgestellt waren. Die Untätigkeit der kaiserlichen Generäle Heister und Guttenberg erregte den Zorn der Landesverteidiger. Als die Südtiroler erkannten, dass die beste Abhilfe gegen den Angriff aus dem Süden die Vertreibung des Kurfürsten im Norden wäre und aus Wien klare Befehle eintrafen, besann sich General Heister seiner Pflicht: Am 15. August wurde zu Brixen mit dem Landeshauptmann Graf von Künigl der Angriff auf die Bayern beschlossen. Für den 21. August wurden alle Scharf- und Scheibenschützen der Viertel Ober- und Unterinntal, des Eisack- und Pustertals, des Burggrafenamtes und des Vinschgaues nach Innsbruck aufgeboten.
20.000 Mann hatten sich am 21. August in Innsbruck versammelt. Mit dieser Macht brach General Heister am 24. nach Seefeld auf. Der Kurfürst war jedoch in Kenntnis von der Größe der zusammen gezogenen Streitmacht. Noch am 21. August zog er gegen Mittenwald und weiter Richtung München ab. Der Feind verließ nach zweimonatlichem Aufenthalt den nördlichen Landesteil. In den Tiroler Bergen hatte er schätzungsweise bis 5.000 Mann eingebüßt. Die Kaiserlichen und die Tiroler brachen nun an drei Orten, nämlich bei Scharnitz, im Achental und bei Kufstein in das bayrische Gebiet. Am 27. August erstürmten die Tiroler die Verteidigungs-Schanze zwischen Partenkirchen und Forchet; die bayrische Landmiliz wurde geschlagen. Streifpartien der Kaiserlichen drangen bis fünf Stunden vor München. Die Tiroler machten reiche Beute; etliche bayerische Dörfer gingen in Rauch und Flammen auf. Den unglücklichen Bewohnern wurde erklärt, die Grausamkeit hätten die Tiroler von den Bayern gelernt.
Den Kürfürsten ereilt das Schicksal
Bei der glücklichen Rückkehr am 29. August wurden beiläufig 8.000 Stück Rindvieh, 136 Pferde aus dem kurfürstlichen Gestüt zu Schwaiganger, große Geldmittel und kostbare Mobilien mitgeschleppt. General Guttenstein blieb mit 1.000 Mann Kriegsvolk und starker Artillerie in Scharnitz und auf dem Seefeld zur Sicherung gegen die Bayern. Indes dem Kurfürst war die Lust auf Tirol abhanden gekommen. Am 11. September brach auch der französische General von Vendôme den Angriff im Süden ab. Die Franzosen waren bis vor die Stadt Trient vorgerückt, die am 6. September unter schweren Beschuss genommen wurde. Beim Rückzug raubten die französischen Truppen alle am Weg liegenden Dörfer aus und brannten sie nieder. Verfolgt von den Aufgeboten der Schützen aus dem Eschkreis und Trient sowie den Kaiserlichen unter Solari und Heister verschwanden die Franzosen Mitte Oktober 1703 aus dem italienischen Teil Tirols.
Wie die meisten Täternaturen ereilte auch den Kurfürsten Max Emanuel sein Schicksal: In der Schlacht bei Höchstädt am 13. August 1704 standen einander gegenüber eine vereinigte kaiserlich-englische Armee unter Prinz Eugen von Savoyen sowieJohn Churchill, 1. Duke of Marlborough und eine vereinigte bayerisch-französische Armee unter der Führung von Max Emanuel sowie Camille d’Hostun de la Baume Herzog von Tallard („Marschall Tallard“), insgesamt 100.000 Mann. Prinz Eugen und der Herzog von Marlborough erfochten einen glänzenden Sieg. Prinz Eugen „residierte“ im Winter 1704/1705 in München. Max Emanuel floh, um sich dem Strafgericht des Kaisers zu entziehen – zuerst nach Belgien, später nach Frankreich. Erst nach der Kapitulation Bayerns im Jahr 1704 räumten die bayerischen Truppen auch die Festung Kufstein. Mit Waffengewalt war die Rückeroberung nicht gelungen.
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Boarischer Rummel. Tirol erkämpft seine Freiheit, von Dr. Bernd Oberhofer