Gerald Kohl, Dr.iur., Ao. Univ.-Prof. am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien; Habilitation für die Fächer „Österreichische und europäische Rechtsgeschichte einschließlich Verfassungsgeschichte der Neuzeit“ sowie „Europäische Privatrechtsentwicklung“, hat die Tiroler Grundbuchanlegung gründlich erforscht.

Gerald Kohl, Dr.iur., Ao. Univ.-Prof. am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien; Habilitation für die Fächer „Österreichische und europäische Rechtsgeschichte einschließlich Verfassungsgeschichte der Neuzeit“ sowie „Europäische Privatrechtsentwicklung“, hat die Tiroler Grundbuchanlegung gründlich erforscht.


 

Gerald KOHL, Wien:
Territoriale Rechtsvielfalt und gesamtstaatliche Rechtsvereinheitlichung in der Habsburgermonarchie: Die Einführung des Grundbuchs in Tirol

1. Allgemeines

Dieser Beitrag hat keinen Vergleich zwischen Großreich und Kleinstaat zum Gegenstand, sondern widmet sich einem großstaatstypischen Problem, nämlich dem Spannungsverhältnis zwischen Rechtsvielfalt und Rechtsvereinheitlichung. Bei mehrstufigem Staatsaufbau gibt es für die „Aufgabenverteilung“ ein Klischee: Die Länder sind für die Rechtszersplitterung verantwortlich, der Bund bzw. Gesamtstaat übernimmt die Rechtsvereinheitlichung. Hier wird nun ein Beispiel gezeigt, in dem diese Rollen nicht so klar verteilt erscheinen: die Einführung des Grundbuchs in Tirol.

2. Grundbuch und Verfachbuch

Dem Liegenschaftsverkehr dienende öffentliche Bücher gab es in Tirol schon seit dem 14. Jahrhundert. Diese sogenannten „Verfachbücher“ unterschieden sich als „tirolische Specialität“ in mehrfacher Weise vom modernen Grundbuch und hatten erhebliche Nachteile : Dazu gehörten die unübersehbare Vielfalt der rechtlichen Grundlagen , der Mangel des öffentlichen Glaubens, hervorgerufen durch das Unterbleiben einer gerichtlichen Prüfung verfachter Urkunden, sowie nicht zuletzt die Unübersichtlichkeit im Einzelfall: Das Verfachbuch war nämlich nur eine annähernd chronologische Sammlung von Urkunden mit Personen-, doch ohne Realregister. Die mühsame Rekonstruktion der Rechtsverhältnisse an einer Liegenschaft blieb Aufgabe der Parteien; zu ihren Lasten gingen Fehler und Lücken in den Registern, die u.a. dadurch entstanden, daß die Verfachung von Rechtsübergängen oder Löschungsurkunden unterblieb. Gerichtliche „Hypothekenzertifikate“ über die bestehenden Belastungen hatten bloß informativen Charakter, weder Vollständigkeit noch Richtigkeit waren garantiert. In Anbetracht dieser Unterschiede galten in Tirol auch all jene Bestimmungen der Gerichtsordnung und des ABGB nicht, „welche die Existenz der Grundbuchs- und Landtafelverfassung voraussetzen“; stattdessen waren ältere Bestimmungen in Kraft geblieben.
Dagegen bestanden die Vorteile des Grundbuchs in dessen Übersichtlichkeit und Verlässlichkeit infolge des Realfoliensystems, also der Zusammenfassung aller für eine Liegenschaft relevanten Informationen in einer Einlage, sowie im ihm zukommenden öffentlichen Glauben. Hier setzte allerdings auch die (Tiroler) Kritik am Grundbuchssystem mit dem Vorwurf ein, das Grundbuch stelle die Form über den Inhalt, weil der Bucheintrag und nicht die Urkunde gelte. Weiters befürchteten die Grundbuchsgegner Schwierigkeiten bei der Buchführung infolge der starken Eigentumszersplitterung, die hohen Kosten der Grundbuchsanlegung sowie soziale Umwälzungen. So erschien das Grundbuch als Gefahr für den Kredit der Bauern, weil es deren Verschuldung sichtbar machte. Dem „Capitalismus (…) ganz auf den Leib geschnitten“ , würde es längerfristig den Realverkehr und die Verschuldung des Bauernstandes fördern sowie durch „Güterschlächterei“ der Seßhaftigkeit der Bauern schaden. Das Verfachbuch könnte hingegen den „Güterschacher“ verhindern und Tirol „vor der Hörigkeit des fremden Capitals“ bewahren.

3. Kompetenzverteilung im Grundbuchswesen

Nach der Verfassung 1867 gehörte u.a. „die Civilrechtsgesetzgebung mit Ausschluß der Gesetzgebung über die innere Einrichtung der öffentlichen Bücher (…)“ zum „Wirkungskreise des Reichsrathes“, alle dem Reichsrat nicht zugewiesenen „übrigen Gegenstände“ fielen „in den Wirkungskreis der Landtage“. Eine freiwillige Übertragung von Landtagsaufgaben an den Reichsrat blieb allerdings möglich.
Der „Ausschluß der Gesetzgebung über die innere Einrichtung der öffentlichen Bücher“ aus der Zivilrechtsgesetzgebung ging auf einen „Kompromiß“ im Verfassungsausschuß des Abgeordnetenhauses (AH) zurück , gegen den sich im Plenum Widerspruch zeigte: So beschwor der Abg. Hanisch die „Nothwendigkeit einer einheitlichen Justizgesetzgebung“ und entwickelte eine interessante Auffassung über das Verhältnis des Reichsrates zur „Specialgesetzgebung“: Eine solche bliebe weiterhin möglich, „Specialgesetze“ könnten auch „von demjenigen Factor erlassen werden, welchem die Justizgesetzgebung im Ganzen zugewiesen ist. Nicht jedes vom Reichsrathe votirte Gesetz muß für das ganze Reich, es kann auch für ein einzelnes Land oder für mehrere Länder gelten; die ausschließliche Zuständigkeit der Reichsvertretung schließt also nicht aus, daß besondere Verhältnisse, wo sie lebendig wirken, berücksichtigt und in einem Specialgesetze niedergelegt werden“.
Auch die Mehrheit der juridisch-politischen Kommission des Herrenhauses (HH) empfahl die Ablehnung dieses Paragraphen wegen der „hohen Wichtigkeit der Grundbücher“: „Die Grundbuchsordnung und die Einrichtung der Grundbücher stehen in so innigem Zusammenhange mit der (…) einheitlichen Justizgesetzgebung, daß eine Trennung der bezüglichen Legislation und deren Theilung zwischen Reichsrath und Landtagen (…) nicht wohl thunlich erscheint.“
Obwohl diese Sicht im HH-Plenum keine ungeteilte Zustimmung fand und Justizminister Hye beruhigend darauf verwies, die wirtschaftlichen Zwänge würden ohnehin im eigenen Interesse der Länder eine Einheitlichkeit nahelegen , beschloß das HH schließlich eine vom AH abweichende Textierung, wobei der die Reichsratskompetenz einschränkende Halbsatz („insoferne sie nicht die Einrichtung der Grundbücher (…) betrifft“) entfiel.
Bei der Umformulierung im neuerlich befaßten AH entstand die schließlich endgültige Textierung. Mit „Selbstüberwindung“ zur Vermeidung eines „Conflictes“ schloß sich ihr auch das HH an , in dessen zweiter Debatte man Widersprüchliches gehört hatte: Einerseits wurde vor einer Überschätzung der „Einheit der Civilgesetzgebung“ gewarnt – gleiches Recht sei „nicht selten gerade in der Ungleichheit oder Verschiedenheit gelegen, in der maßvollen Berücksichtigung der eigenthümlichen Verhältnisse“ – andererseits rechnete man eine „gemeinsame Civil- und Strafgesetzgebung (…) zu den größten Wohlthaten, zu den größten Stärkungsmitteln der staatlichen Einheit, zu den größten Förderungsmitteln der materiellen Wohlfahrt“ .

Die Kompetenzbestimmungen, deren Entstehung eben kurz skizziert wurde, bedeuteten eine Zäsur für die (weit in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreichenden und hier nicht näher darzustellenden) Arbeiten an einem allgemeinen Grundbuchsgesetz (in der Folge: GBG), machten sie doch eine Umarbeitung im Sinne einer Trennung der zivilrechtlichen Bestimmungen von den Normen der inneren Einrichtung der Grundbücher erforderlich. Damit entstand ein komplexes System: Die zivilrechtlichen Teile enthielt das Allgemeine GBG (RGBl 1871/95), das mit 15. 2. 1872 in Kraft trat. Dieses Reichsgesetz regelte das Grundbuch im Allgemeinen, die Arten bücherlicher Eintragungen sowie das Verfahren. Daneben ergingen Grundbuchsanlegungs-Landesgesetze (GBA-LG) „über die Anlegung neuer Grundbücher und deren innere Einrichtung“. Zentrale Bedeutung hatte hier jeweils § 1, der die Anlegung neuer Grundbücher anordnete.
Dabei sind zwei Gruppen von Ländern zu unterscheiden: Erstens solche, in denen diese GBA-LG, wie von § 11 StGG/RV beabsichtigt, von den Landtagen erlassen und im Landesgesetzblatt kundgemacht wurden – dies geschah zwischen 1873 und 1881 in Böhmen, Bukowina, Dalmatien, Galizien-Lodomerien, Krakau, Görz-Gradiska, Krain und Steiermark, sodann erst 1897 in Tirol und 1900 in Vorarlberg –, zweitens jene, bei denen man die Rechtszersplitterung dadurch überbrückte, daß die Landtage die Regelung der GBA gemäß § 12/2 StGG/RV der Reichsgesetzgebung überließen; diese wurden daher im Reichsgesetzblatt kundgemacht (Salzburg, Istrien, Kärnten, Mähren, Österreich ob der Enns, Österreich unter der Enns, Schlesien).

4. Die Grundbuchsanlegung im Tiroler Landtag

Noch 1892 war der Vorschlag einer Einführung des Grundbuchs im Tiroler Landtag knapp der Idee einer Modernisierung des Verfachbuches unterlegen. Im Frühjahr 1893 erklärte jedoch der Referent des dazu eingesetzten Ausschusses sein Scheitern und sprach sich für das Grundbuch aus. Bei einer ebenfalls 1893 durchgeführten Enquete, bei der an 16 Orten fast 300 mit Lokal- und Landesverhältnissen vertraute Männer angehört wurden, zeigte sich der Wunsch nach einem „erleichterten Grundbuch“.
Nach weiteren Vorbereitungen – die Befürworter des Grundbuchs wurden bereits ungeduldig – legte der Statthalter am 2. Jänner 1896 dem Landtag endlich den Regierungsentwurf eines „Gesetzes betreffend die Anlegung von Grundbüchern und die innere Einrichtung derselben“ vor. Er begründete die verflossene Zeit mit der Gründlichkeit der Vorarbeiten, bei denen die Regierung zur Überzeugung gelangt sei, „daß im Lande Tirol eine Reihe von besonderen thatsächlichen Verhältnissen“ bestünde, „welche in dieser Weise in anderen Ländern nicht bestehen, und die daher einer besonderen Berücksichtigung in der Grundbuchsgesetzgebung in Tirol bedürfen“. Der „Kreis der Competenz der Landesvertretung“ würde jedoch nicht ausreichen, um den „Wünschen der Bevölkerung“ zu entsprechen. „Die Regierung entschloß sich daher, auch den Weg der Reichsgesetzgebung zu betreten, um jene Abänderungen und Modificationen der allgemeinen Grundbuchsordnung zu erzielen, welche für die Einführung dieser Institution in Tirol wünschenswert und nothwendig erscheinen“. Daraus resultierte eine „zweifache gesetzgeberische Action“.
Einerseits war eine „landesgesetzliche Vorlage“ erstellt worden, die weitgehend den bekannten GBA-LG entsprach, aber doch auch einige Abweichungen aufwies. So wurde etwa mit der Möglichkeit „geschlossener Höfe“ Rücksicht auf die Untrennbarkeit von Bauerngütern genommen, auch die Eintragung des öffentlichen Gutes ins Grundbuch vorgesehen. Da mit dem Inkrafttreten eines GBA-LG „das ganze allgemeine österreichische Grundbuchsrecht und eine Reihe materieller Rechtsbestimmungen des Civilrechtes“ in Tirol neu eingeführt worden wären, wurde diese Vorlage von einer weiteren begleitet: Der Entwurf eines „Gesetzes, womit für den Fall der Einführung der Grundbücher in Tirol einige grundbuchsrechtliche Sonderbestimmungen (…) eingeführt werden“, war zwar für die Behandlung im Reichsrathe bestimmt“, dennoch erwartete der Statthalter für diese Beilage seitens der Landtagsabgeordneten „Aufmerksamkeit in noch höherem Maße“ als für die Landtagsvorlage selbst. Dieser zweite Entwurf würde zeigen, daß die „Regierung aufrichtig bemüht war, den Besonderheiten des Landes Rechnung zu tragen“, enthielt er doch „gesetzliche Sonderbestimmungen, welche in den anderen Grundbuchsländern nicht vorkommen“ , Änderungen „jener reichsgesetzlichen Bestimmungen (…), die man in Tirol als eine übermäßige Belästigung des bücherlichen Verkehrs bezeichnet und gewisse finanzielle Begünstigungen (…), die dem Lande den Uebergang zur neuen Einrichtung erleichtern.“

Der am 3. Jänner 1896 gewählte Grundbuchsausschuß hatte sich demnach mit zwei Vorlagen zu beschäftigen, deren Verhältnis der Referent Karl von Grabmayr ausführlich beleuchtete. Nach „geltendem Verfassungsrechte [war] eine directe Einflußnahme der tirolischen Landesvertretung auf den reichsgesetzlichen Entwurf ausgeschlossen“. Dennoch „brachte (…) die Regierung den gedachten Entwurf als Beilage des Landesgesetzentwurfes zur Kenntnis des Landtags und erklärte sich (…) bereit, allfällige Wünsche [nach] Änderungen des Reichsgesetzes im Reichsrathe zu vertreten.“ Dies stützte man auf § 19 der Tiroler Landesordnung , wonach der Tiroler Landtag über Reichsgesetze, deren Wirkung sich auf Tirol erstrecken sollte, Gutachten abgeben konnte.

Das „Verhältnis zwischen Reichs- und Landesgesetz, zwei Gesetzen, die einerseits in unlösbarem innerem Zusammenhange stehen, andererseits der unabhängigen Beschlußfassung verschiedener parlamentarischer Körperschaften unterliegen“, fand daher im Ausschuß „eingehende Erörterung“. Dabei ging man davon aus, daß der Landtag das GBA-LG nur unter der Voraussetzung beschließen würde, daß „von der Reichsvertretung die im Entwurfe des Reichsgesetzes enthaltenen Erleichterungen und Begünstigungen gewährt werden“. Letzteres galt es abzusichern: „Sollte die Reichsvertretung wider Erwarten nicht darauf eingehen, so soll auch der Tiroler Landtag an seinen zu Gunsten der Grundbuchseinrichtung gefaßten Beschluß nicht gebunden sein.“ Den Ansatzpunkt einer Bedachtnahme auf den Reichsrat sah man in der Bestimmung eines Zeitpunkts für das Inkrafttreten: „Diesem eigenthümlichen Verhältnisse zwischen den beiden Vorlagen glaubte der Ausschuß am besten durch eine Amendierung des § 39 L-G Rechnung zu tragen, der nunmehr lautet: ‚Der Beginn der Wirksamkeit dieses Gesetzes wird durch ein besonderes Landesgesetz bestimmt.’“ Würde der Reichsrat „den durch die Regierung vertretenen Wünschen des Landes“ entsprechen, dann könnte „der Landtag in der nächsten Session das von der Reichs- und Landesvertretung geschaffene legislative Gesammtwerk lediglich durch den Beschluß, das Landesgesetz sofort in Wirksamkeit treten zu lassen, (…) ratificieren“. Sollte die Reichsvertretung jedoch „wider Erwarten den Landeswünschen in wesentlichen Punkten die Genehmigung versagen, dann steht es im freien Ermessen des Tiroler Landtags, das Landesgesetz nicht in Wirksamkeit zu setzen, und damit auf die Einführung der Grundbücher zu verzichten.“

Ungeachtet dieses Mißtrauens gegenüber dem Reich lobte Grabmayr die „wohlwollende, thatkräftige Mithilfe“ der Regierung, ohne die ein „Reformwerk von solchen Schwierigkeiten“ unmöglich wäre. Eigens hob er hervor, daß Tirol „der Zustimmung der Reichsvertretung zu den Erleichterungen des Grundbuchsrechtes [bedürfe], die den besonderen Verhältnissen und Bedürfnissen des Landes entsprechen“. Es war daher von grundlegender Bedeutung, daß sich die Regierung „zur nachdrücklichen Vertretung dieser Wünsche vor den parlamentarischen Körperschaften des Reiches bereit“ erklärte. Dabei sei, wie der Statthalter betonte, „kein Grund zur Annahme vorhanden (…), daß nicht in allen wesentlichen Punkten den Wünschen des Landtages seitens der Reichsgesetzgebung werde Rechnung getragen werden.“ Auch auf die Landtagsberatungen selbst nahm die Regierung wesentlich Einfluß, indem sie den auf Modernisierung des Verfachbuches gerichteten Minoritätsantrag des Ausschusses für „unannehmbar“ erklärte; die gewünschte Zusammenfassung aller Bestimmungen für ein modernisiertes Verfachbuch in einem Landesgesetz war „durch die Bestimmungen des Verfassungsrechtes ausgeschlossen“, Zivilrecht fiel nicht „in die Competenz der Landesgesetzgebung“.
Hier wird besonders deutlich, daß die zentrale Rolle der Regierung in diesem Gesetzgebungsverfahren vom kompetenzrechtlichen Rahmen mitbestimmt war: Im Gegensatz zu den parlamentarischen Körpern der Gesetzgebung blieb sie nämlich nicht bloß auf eine staatliche Ebene beschränkt!
Der Landtag beschloß schließlich neben dem Text des GBA-LG, dessen Sanktion durch den Kaiser einzuholen war , auch das Ersuchen an die Regierung, „das verfassungsmäßige Zustandekommen eines mit [einer] Beilage übereinstimmenden Reichsgesetzes zu erwirken.“

5. Die Tiroler Grundbuchsanlegung im Reichsrat

Auf Reichsebene hatte die Regierung – der erwarteten Annahme der Vorlage im Landtag vorauseilend – ihren Gesetzentwurf im HH eingebracht, wobei sie der „gutachtliche[n] Stellungnahme des Landtages (…) in weitem Maße nachgekommen“ war. In den Erläuterungen stellte sie fest, daß „wesentliche, unüberwindliche Hindernisse“ für eine Rezeption des Grundbuchs nicht bestünden, daß es jedoch „unvermeidlich“ scheine, „Eigenthümlichkeiten und herrschenden Anschauungen Rechnung zu tragen und somit einzelne gesetzliche Sonderbestimmungen, welche in den anderen Grundbuchsländern nicht vorkommen, zu erlassen“. Auch die Juridische Kommission des HH betonte das Bemühen, den Tiroler „Wünschen thunlichst zu entsprechen“ , um „das Grundbuchsinstitut in Tirol gedeihlich zu gestalten“. So wurden nur geringfügige Veränderungen gegenüber den Landtagswünschen beschlossen, im HH-Plenum ging kein Redner auf die besondere Gesetzgebungstechnik ein.

Dem AH empfahl sein Justizausschuß die unveränderte Annahme der Vorlage, so wie sie vom HH beschlossen worden war, und zwar „in der Erwägung, daß die Einführung von Grundbüchern in Tirol nicht nur im Interesse dieses Kronlandes zur Herstellung eines geordneten und verläßlichen Buchwesens wärmstens zu fördern ist, sondern auch einen bedeutsamen Schritt zur Rechtseinheit (…) auf dem Gebiete des Immobiliarrechtes bedeutet“. Die beantragten Sonderbestimmungen wären nicht nur „durch den Übergang vom bisherigen Rechtszustande zu dem neuen Rechte nothwendig und gerechtfertigt“, sondern auch „geeignet (…), das in Tirol noch vollkommen fremdartige Grundbuchsinstitut den besonderen Landesverhältnissen und Bedürfnissen anzupassen und hierdurch zur gedeihlichen Entwicklung zu bringen“.

Im AH-Plenum wurde die Rücksichtnahme auf regionale Verhältnisse zwar aus nationalen Gründen kritisiert , doch erfuhren die Parlamentarier hier auch, daß Änderungen an der Vorlage kontraproduktiv wären. So erklärte der böhmische Abgeordnete Dr. Nitsche, 35 Jahre zuvor Rechtspraktikant in Tirol, er wüßte zwar manche Anträge zu stellen, wolle davon jedoch absehen, nachdem ihm „von verschiedenen Freunden aus Tirol, selbst von Notaren bekannt gegeben wurde, daß, wenn irgend eine Änderung mit dieser Vorlage vorgenommen würde, es fraglich wäre, ob der tirolische Landtag dann seine Zustimmung geben würde“. Man müsse sich bewußt sein: „Wenn man hier etwas macht, und es paßt ihnen im Lande nicht, so nehmen sie es nicht an. Es gibt, wie ich höre, eine Menge von Stimmen und Persönlichkeiten in Tirol, die nur darauf warten, daß sie nachträglich die Einführung des ganzen Grundbuches unmöglich machen können.“ In diesem Sinne begrüßte auch Justizminister Gleispach das Unterbleiben von Abänderungsanträgen, „um nicht zu bewirken, daß etwa durch Annahme derselben das Tiroler Landtagsgesetz eventuell in Brüche ginge und dadurch die Neuanlegung der Grundbücher in Tirol vereitelt werde.“ – Unter diesen Rahmenbedingungen verwundert die reibungslose Annahme des Tiroler GBA-RG nicht.

6. „Schlußact“ im Landtag

Im Februar 1897 erfolgte der „legislative Schlußact“, bei dem es nur mehr darum ging „das Tüpferl auf das I zu setzen“ . Eine eigene Vorlage zum Wirksamkeitsbeginn des legislativen Gesamtwerks sah vor, das Tiroler GBA-LG solle mit dem Tag der Kundmachung desselben sowie des Gesetzes über grundbuchsrechtliche Sonderbestimmungen in Kraft treten. Dadurch wäre „der untrennbare Zusammenhang zwischen Landesgesetz und Reichsgesetz zum denkbar klarsten Ausdruck gebracht und die Möglichkeit absolut ausgeschlossen, daß ein Gesetz ohne das andere Gesetzeskraft erlangen könne“.

Zuvor hatte der Tiroler Landtag noch eine „vergleichende Prüfung“ von „Gesetz und Gutachten“ anzustellen und zu untersuchen, „ob das von der Reichsvertretung beschlossene (…) Reichsgesetz den vom vorjährigen Landtage in Form eines Gutachtens formulierten Wünschen in vollem Umfang entspreche“. Während der Ausschußmehrheit die Abweichungen „durchwegs geringfügig“ erschienen, qualifizierten die Grundbuchsgegner sie als „bedeutend und wesentlich“. Noch einmal eine Chance witternd, schlugen sie eine Vertagung der Frage vor, „bis der im vorigen Jahre von uns begutachtete Gesetzentwurf an den Reichsrath wieder zurückgeleitet wird, um nach unseren Anträgen modificiert zu werden“. Grabmayr warnte hingegen, die Angelegenheit nochmals in den Reichsrat zu bringen, weil das Ergebnis eines solchen Vorstoßes „unberechenbar“ sei. Es hätte „schon diesmal Mühe genug gekostet. In dem Trubel, der in Wien herrscht, wo hunderterlei verschiedene Interessen durcheinander laufen und sich kreuzen“, sei es „nicht so einfach, ein solches Gesetz durchzubringen“. Man sollte keine Eifersucht provozieren im Sinne der Überlegung „Wozu sollen die Tiroler eine Extrawurst haben?“
So nahm der Landtag das Gesetz schließlich an. Zum Termin des Inkrafttretens hieß es nun: „Die Wirksamkeit dieses Gesetzes beginnt mit dem Tage der Kundmachung dieses und des Gesetzes vom (…) RGBl Nr (…), womit für den Fall der Einführung der Grundbücher in Tirol einige grundbuchsrechtliche Sonderbestimmungen (…) eingeführt werden.“ Die Regierung hielt ihr Versprechen, für eine gleichzeitige Kundmachung der beiden Gesetze zu sorgen: Diese erfolgte am 24. März 1897.

7. Inhaltliche Besonderheiten des Tiroler Grundbuchsrechts

Die reichsgesetzlichen Sonderbestimmungen waren teils dem Gebiet des Zivilrechts (Reichskompetenz gemäß § 11 Abs.2 lit k StGG/RV) zuzuordnen, teils waren sie finanzieller Natur (Reichskompetenz gemäß § 11 Abs.2 lit c StGG/RV). Die finanziellen Sonderregeln ermöglichten den Tirolern bedeutende Kostenersparnisse etwa durch Porto- und Gebührenbegünstigungen oder die gerichtliche Urkundenaufnahme . Hierher gehörte mit der Einführung sogenannter Legalisatoren zur Beglaubigung von Privaturkunden aber auch eine besonders umstrittene Maßnahme: Von diesen neuen Legalisierungsorganen befürchtete man, sie würden sich nicht auf die Beglaubigung fremder, ihnen von den Parteien vorgelegter Urkunden beschränken, sondern selbst winkelschreiberisch als Urkundenverfasser tätig werden.
Im Bereich des Zivilrechts brachte das Tiroler GBA-RG „zum Teil (…) bleibende Abweichungen vom Reichsrecht“. Dazu gehörten nicht nur recht unauffällige Details wie die „grundbuchsrechtliche Neuerung“ von Sonderbestimmungen über die Beseitigung gesetzwidriger Eintragungen oder die Ausdehnung des Verbots neuer materieller Gebäudeteilungen durch räumliche Erstreckung von RGBl 1879/50 auf „Deutschtirol“. Auch – vermeintlich – grundlegende Elemente des österreichischen Zivilrechts waren betroffen: Entgegen der Definition von Pflanzen als Zugehör des Grundstücks (§ 295 ABGB) sowie in Abkehr von dem durch die Pandektistik betonten Grundsatz „superficies solo cedit“ wurden Bäume als abgesonderte Vermögensobjekte zugelassen. Eine Maßnahme, die primär der Aufwandsersparnis bei der Grundbuchsanlegung dienen sollte, zog ebenfalls grundsätzliche Konsequenzen nach sich: Da nämlich für einen einzigen Weg in der Natur uU tausend Eintragungen notwendig waren , wurden durch Ersitzung begründete Wege- und Wasserleitungsrechte, soweit Felddienstbarkeiten, von der Eintragung ausgenommen. Auf diese Rechte konnte somit der grundbücherliche Vertrauensgrundsatz – das materielle Publizitätsprinzip – keine Anwendung finden; § 1500 ABGB gilt in Tirol daher nur eingeschränkt .

8. Ergebnis

Betrachtet man die Grundbuchsanlegung in Tirol aus dem Gesichtspunkt von Rechtsvielfalt und Rechtvereinheitlichung, so läßt sich feststellen: Die Rechtsvereinheitlichung – des Grundbuchs an sich – ist durch Sonderbestimmungen, also durch eine Rechtsvielfalt erkauft. Rechtsvereinheitlichung und Rechtvielfalt sind demnach kein Gegensatz, sondern gehen Hand in Hand. Hergebrachte Klischees erscheinen dabei aufgeweicht: Das GBA-LG ist „wirksam für die gefürstete Grafschaft Tirol“, also einheitlich für das gesamte Land; das GBA-RG schafft hingegen Differenzierungen, sogar solche innerhalb Tirols: Das Verbot künftiger materieller Gebäudeteilungen wurde (zunächst) nur für „Deutschtirol“ erlassen und erst 1910 auf das ganze Land erstreckt. Noch länger, nämlich bis 1942, lieferte das Tiroler GBA-RG eine von drei verschiedenen Rechtsgrundlagen für die Beseitigung gesetzwidriger materieller Gebäudeteilungen. Sogar bis heute gilt schließlich § 1500 ABGB in Tirol nur eingeschränkt.
Damit ist das – durch das Bundesrechtsbereinigungsgesetz BGBl 1999/191 in seinem Bestand bestätigte – Tiroler GBA-RG bis heute Denkmal einer Rechtsvielfalt innerhalb der Habsburgermonarchie.