Das Provisorisches Gemeindegesetz vom 17. März 1849
Bereits die unmittelbar nach der Märzrevolution erlassene erste österreichische Verfassungsurkunde vom 25. April 1848 (PGS LXXVI, Nr. 49, S. 152 ff.; FISCHER-SILVESTRI, Texte, S. 3 ff), die auch als Pillersdorfsche Verfassung in die österreichische Geschichte einging und letztlich nicht umgesetzt wurde, sah in den §§ 56 und 57 vor, eigene „Muncipial-Einrichtungen“ zu installieren, wobei die Gemeindeverfassungen vor allem die Interessen der Gemeinden und ihrer Mitglieder zu berücksichtigen hatten. Auch der vom konstituierenden Reichstag ausgearbeitete Kremsierer Entwurf (dazu: FISCHER-SILVESTRI, Texte, S. 15 ff) legte die Installierung von Gemeinden fest, wobei ein zu erlassendes Gemeindegesetz gemäß den §§ 130 und 131 diverse „unveräußerliche Rechte“ zu garantieren hatte – so vor allem die freie Wahl der Gemeindevertreter, die Aufnahme neuer Gemeindeglieder, das Recht der Selbstverwaltung und die Veröffentlichung des Gemeindehaushalts. Obwohl dieser Kremsierer Entwurf nicht in Kraft trat, sollten die diesbezüglichen Bestimmungen zur Gemeinde doch noch Beachtung finden. (Dazu vgl. BRAUNEDER, Verfassungsentwicklung, S. 132 f.; GUMPLOWICZ, Staatsrecht, S. 214; KLABOUCH, Gemeindeselbstverwaltung, S. 27)
Denn die Oktroyierte Märzverfassung vom 4. März 1849 übernahm in ihrem § 33 fast wörtlich die Grundsätze des Kremsierer Entwurfs für ein zu erlassendes Gemeindegesetz. Der Gemeinde wurden damit ausdrücklich folgende „Grundrechte“ garantiert: die Wahl ihrer Vertreter, die Aufnahme neuer Mitglieder in den Gemeindeverband, die selbständige Verwaltung ihrer Angelegenheiten, die Veröffentlichung der Ergebnisse ihres Haushalts sowie die Öffentlichkeit der Verhandlungen ihrer Vertreter. Auch die Etablierung von Bezirks- und Kreisgemeinden war vorgesehen. Die Einzelheiten des Gemeinderechts sollten innerhalb des reichsgesetzlichen Rahmens von den Ländern bestimmt werden. (Dazu vgl. NEUHOFER, Handbuch, S. 3 f.; NEUHOFER, Gemeinderecht, S. 3)
Mit ausdrücklicher Bezugnahme auf den § 33 der Märzverfassung erließ Kaiser FRANZ JOSEPH am 17. März 1849 das „Provisorische Gemeindegesetz“ (RGBl.Nr. 170/1849). Den Zusatz „provisorisch“ führten damals alle Gesetze, die das Ministerium bis Ende 1851 kundmachte, weil an sich daran gedacht war, die nachträgliche Zustimmung des Reichstages – also des nach der Märzverfassung vorgesehenen Parlaments – einzuholen. Tatsächlich wurde dieses Parlament dann nie eingerichtet. Dieses Gemeindegesetz umfasste insgesamt 177 Paragraphen und organisierte die Gemeinde als Selbstverwaltungskörper mit gewählten Organen. (Zu den Hauptinhalten des Gesetzes vgl. MAYRHOFER, Handbuch, 2. Bd., S. 418 ff.; MISCHLER-ULBRICH, Staatswörterbuch, 2. Bd., S. 313; BRAUNEDER, Verfassungsentwicklung, S. 133 ff.; WIELINGER, Gemeindeverwaltung, S. 128. Zu den Hauptmotiven des Gesetzes vgl. auch „Allerunterthänigster Vortrag des treu gehorsamsten Ministerrathes“ vom 15. März 1849. Abgedruckt bei REDLICH, Wesen, S. 74 – 85; und in der Wiener Zeitung vom 20. 3. 1849)
Zu betonen ist dabei, dass dieses Gesetz sich nicht als Schöpfer der Organisationseinheit „Gemeinde“ betrachtete, sondern die Gemeinde als etwas Bestehendes und historisch Gewachsenes ansah – schließlich existierten damals in der Habsburgermonarchie bereits rund 69.000 Dorfgemeinden sowie 2.300 Marktgemeinden und 800 Städte (Zahlen bei WEISKE, Gemeindegüter, S. 118). Die Gemeinde durfte „weder als zufälliges Aggregat von Individuen, noch als eine locale zum Behufe der Administration und des erleichterten Staatslebens gebildete Vereinigung einer Summe von Menschen, noch als ein bloßes Stück der Staatsmaschine betrachtet werden, das beliebig verschoben, zertheilt oder zusammengekittet werden könnte“ betrachtet werden. („Allerunterthänigster Vortrag des treugehorsamsten Ministers des Innern Dr. Alexander Bach“, Beilage zum Erlass des Ministeriums des Innern vom 9. August 1849, RGBl.Nr. 352/1849. Dazu vgl. MISCHLER-ULBRICH, Staatswörterbuch, 2. Bd., S. 315)
Auch der Rechtshistoriker Gernot KOCHER stellt dazu ausdrücklich fest, „dass die Gemeinde vom Begriff, von den Aufgaben und von der mehr oder weniger ausgeprägten Selbständigkeit her bereits vor 1848 vorhanden war“ (KOCHER, Gemeindeautonomie, S. 18). Andernfalls hätte man im Gesetz genaue Bedingungen für Errichtung und Auflassung der Gemeinden festlegen müssen. Mit dem Gemeindegesetz sollten allerdings neue und einheitliche organisatorische Regelungen geschaffen werden. Die herrschende Auffassung versteht dagegen die Ortsgemeinde, errichtet aufgrund des Provisorische Gemeindegesetzes (bzw aufgrund der Ausführungsgesetze zum Reichsgemeindegesetz 1862) als neue Staatseinrichtung, welche mit älteren Strukturen in keinem Rechtsnachfolgezusammenhang steht. (BRAUNEDER, Verfassungsgeschichte, 11. Aufl., S. 130, spricht von den „Gemeinden als einheitliche Lokalgewalten“ für das Land als „etwas völlig Neues“; mit „der Errichtung der Gemeinden im heutigen Österreich wird 1850 (…) begonnen“. LEHNER, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 4. Aufl., S. 196f; HELLBING, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 2. Aufl., S. 367f; OGRIS, Entwicklung,, S. 83 ff; HOKE, Gemeinde, Sp. 1494ff; vgl. auch NEUHOFER, Gemeinderecht, 2. Aufl., S. 3 f)
Das unter Federführung des damaligen Innenministers Franz Graf von STADION seit Ende des Jahres 1848 vorbereitete und im Februar 1849 vollendete Gesetz verkündete in seiner Präambel, die als „eine Art Magna Charta der Gemeinde“ (So bezeichnet von REDLICH, Wesen, S. 15) an die Spitze dieser Vorschrift gesetzt wurde, den grundlegenden Satz: „Die Grundfeste des freien Staates ist die freie Gemeinde“. (Franz Ser. Graf von STADION-WARTHAUSEN (1806 – 1853) war von November 1848 bis Juli 1849 Innenminister und provisorisch auch mit dem Unterrichtsministerium betraut. Zu seiner Person vgl. den biografischen Artikel von LIPPERT. STADION hatte bereits 1841 als Gouverneur des Küstenlandes eine Gemeindeverfassung ausgearbeitet, die sehr fortschrittlich konzipiert war, und außerdem im April 1847 auch Vorschläge für eine Neugestaltung des Gemeindewesesn in der Gesamtmonarchie dem Kaiser vorgelegt. Dazu vgl. KLABOUCH, Gemeindeselbstverwaltung, S. 29; REDLICH, Wesen, S. 16)
Diese programmatische Formulierung hatte mehrere Dimensionen. Zunächst sollte damit zum Ausdruck gebracht werden, dass den Gemeinden bei der Organisation des neuen Staatsaufbaues eine zentrale Rolle zugedacht war. Sie sollten die strukturelle Basis darstellen, auf der die übrigen Ebenen des Staatswesens aufbauten. Daneben sollte der Grundsatz der freien Gemeinde sicherstellen, dass sich die Gemeinden weitgehend unbeeinflusst und nur mit einem Mindestmaß an staatlicher Aufsicht organisieren und entfalten konnten. Die Gemeinde wurde als „Subjekt der örtlichen Kollektivinteressen“ betrachtet, die vor allem die Fürsorge für die aus dem Nachbarverbande entspringenden kollektiven Bedürfnisse zu übernehmen hatte. Gleichzeitig sollte sie aber auch Träger von staatlich-obrigkeitlichen Befugnissen sein. (GLUTH, Gemeinden – Staatsrechtliche Stellung, S. 313)
Von diesem Modell war man damals in der Habsburgermonarchie noch weit entfernt. Zum einen gab es bis dahin einige sogenannte landesfürstliche Gemeinden und Städte, die direkt dem Monarchen unterstanden, so vor allem die Gemeinden in Tirol, Vorarlberg und Salzburg. Fast alle übrigen Gemeinden der Monarchie standen allerdings im unmittelbaren Einflussbereich einer Guts- oder Grundherrschaft. (Zur damaligen Organisation der Gemeinden vgl. BARTH-BARTHENHEIM, Verhältniß, 1. T., 2. Bd., S. 50 ff.; SPRINGER, Statistik, 2. Bd., S. 29 ff)
Spätestens seit den vierziger Jahren verlangte jedoch die liberale und demokratische Opposition in der Habsburgermonarchie die Selbstverwaltung der Gemeinden und erhob diese Forderung auch im Rahmen der Märzrevolution 1848. Im Spätsommer des Jahres 1848 wurde schließlich vom konstituierenden Reichstag die Bauernbefreiung beschlossen, die dann von Kaiser FERDINAND im Patent vom 7. September 1848 gesetzlich verkündet wurde. Damit war erst die Grundlage geschaffen worden, damit auch die ländlichen Gemeinden aus diesem alten Herrschaftsmechanismus befreit werden konnten. („Kaiserliches Patent betreffend die Aufhebung des Untertänigkeitsverbandes und die Entlastung des bäuerlichen Besitzes“, PGS LXXVI, Nr. 112, S. 285 ff. Die Umsetzung erfolgte dann durch „Kaiserliches Patent, wodurch die Durchführung der Aufhebung des Unterthans-Verbandes und der Entlastung des Grund und Bodens angeordnet wird“ vom 4. März 1849, RGBl.Nr. 152/1849; dazu: vgl. BEIMROHR, Die ländliche Gemeinde, S. 167)
Die Befreiung aus den Fesseln des ehemaligen Untertänigkeitsverbandes sollte vor allem durch das einheitliche Prinzip der Selbstverwaltung erreicht werden. Aber nicht nur die Struktur der Dörfer am Lande, sondern auch die Städte und Märkte sollten durch dieses Prinzip aus der bis dahin bestehenden allzu großen Bevormundung durch die staatliche Verwaltung herausgelöst werden. Stattdessen verfolgte man das Ziel, den Bürgern auf Gemeindeebene lokale und auch diverse allgemeine staatliche Verwaltungsangelegenheiten in Eigenverantwortung zu übertragen. Im Gegensatz zur städtischen Selbstverwaltung früherer Jahrhunderte sollte dieser Verantwortungsbereich allerdings auf die inneren Angelegenheiten der Gemeinde beschränkt bleiben. Graf STADION glaubte damit auch einen Weg gefunden zu haben, den Vielvölkerstaat der Habsburgermonarchie zusammen zu halten. Die Gemeinden sollten mit ihrer Autonomie ein Gegengewicht zur zentralisierten Staatsbürokratie bilden und auf diese Weise die nationalen und kulturellen Unterschiede ausgleichen. (KLABOUCH, Gemeindeselbstverwaltung, S. 34 f. Das österreichische Gesetz war insofern weit fortschrittlicher als die fast gleichzeitig erlassene preußische Gemeindeordnung vom 11. März 1850. BLUNTSCHLI, Staats-Wörterbuch, 4. Bd., S. 126)
Damit wurde ein Prinzip in Österreich allgemein eingeführt, das zuvor schon in diversen europäischen Staaten verankert war. Wegweisend war in dieser Richtung das französische Munizipalgesetz vom 14. Dezember 1789, das diese Gedanken erstmals kodifizierte und auch den Typus der Einheitsgemeinde schuf, womit einerseits die Unterschiede zwischen den kleinen Landgemeinden und den Städten eingeebnet wurden, andererseits auch diverse, bis dahin bestehende, regionale Unterschiede beseitigt wurden. (Dazu vgl. HEFFTER, Selbstverwaltung, S. 57; JELLINEK, System, S. 264 ff.; LAMP, Selbstverwaltung, S. 12 ff.; WOLLMANN, Entwicklungslinien, S. 193 ff. Trotzdem existierte dann im 19. Jahrhundert in vielen europäischen Staaten nicht das Modell der Einheitsgemeinde, sondern man unterschied vor allem zwischen Stadt- und Landgemeinden. Dazu vgl. BLODIG, Selbstverwaltung, S. 102 ff)
Zwar wurde diese weitgehende kommunale Selbstverwaltung durch die im Jahre 1800 von NAPOLEON angeordnete Zentralisierung in Frankreich wieder beschnitten. Doch dieses Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung wurde dann in den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts auch in einigen anderen Staaten übernommen und festgeschrieben, so vor allem im Gemeindegesetz für das Großherzogtum Baden vom 31. Dezember 1831, dem Gesetz des Kurfürstentums Hessen vom 23. Oktober 1834 und dem besonders wegweisenden Gemeindegesetz für das Königreich Belgien vom 30. März 1836, das geradezu als klassisches Beispiel für eine moderne Selbstverwaltung anzusehen ist. (In Belgien verwirklichte man die Idee einer besonderen „pouvoir provincial et communal“, wobei die tragenden Grundsätze schon in der belgischen Verfassung von 1831 verankert waren. Als Gemeindeorgane fungierten der Gemeinderat sowie ein Bürgermeister mit Schöffen, die allerdings der Aufsicht des Provinzialrates und teilweise auch der königlichen Regierung unterlagen. HATSCHEK, Selbstverwaltung, S. 60 ff.; HEFFTER, Selbstverwaltung, S. 144 f. und 182 ff.; KLABOUCH, Gemeindeselbstverwaltung, S. 14; OBERNDORFER, Gemeinderecht, S. 43 f.; BLUNTSCHLI, Staats-Wörterbuch, 4. Bd., S. 124 f.; BECKER, Selbstverwaltung, S. 222 ff.; GRÖLL, Gemeindefreiheit, S. 10; KÖBLER, Zielwörterbuch, S. 343)
Sehr prägend waren in diesem Zusammenhang die Aussagen des liberalen Vordenkers Carl von ROTTECK, der in seinem im Jahre 1838 publizierten Staatslexikon sehr ausführlich seine Vorstellungen von der Organisation der Gemeinden zum Ausdruck brachte. Er betrachtete die Gemeinden nicht als Staatsanstalten, sondern als selbständige Herrschaftsgebilde, bei denen der Staat quasi nur als Schutzpatron zu fungieren und dabei vor allem zur Sicherung des Gemeinwohles beizutragen habe. (ROTTECK-WELCKER, Staats-Lexikon, 6. Bd., S. 390 ff. Dazu vgl. KAHL, Staatsaufsicht, S. 102 ff.; BECKER, Selbstverwaltung, S. 227 f.; HATSCHEK, Selbstverwaltung, S. 73 f.; JELLINEK, System, S. 267 f.; OBERNDORFER, Gemeinderecht, S. 43) Auch in der programmatischen Schrift „Oesterreich und seine Zukunft“ von Victor ANDRIAN von WERBURG aus dem Jahre 1843 wurde ausdrücklich die Ausarbeitung einer neuen Gemeindeverfassung und die Forderung nach Befreiung der Gemeinden „aus der Vormundschaft der Regierung“ erhoben. (ANDRIAN-WERBURG, Oesterreich, S. 189)
In diesem Zusammenhang ist noch kurz auf einen anonymen Entwurf eines Tiroler Gemeindegesetzes hinzuweisen, der kurz nach der Märzrevolution im Jahre 1848 erschien und wahrscheinlich von Franz SPIEGELFELD, einem Sekretär des Innsbrucker Guberniums, stammte. Er sprach sich vor allem für die finanzielle Autonomie der Gemeinden und auch für die Beibehaltung der autonomen Gerichtsgemeinde aus. Auch von Seiten der Tiroler Bauern gab es im Juni 1848 programmatische Forderungen, die auf eine weitgehende Gemeindeautonomie abzielten. (Franz SPIEGELFELD: Versuch zu einem Entwurfe eines Gemeindegesetzes für Tirol und Vorarlberg mit Rücksicht auf die von Sr. Majestät allergnädigst verliehene konstitutionelle Verfassung und die Verhältnisse dieses Landes. Innsbruck 1848. Dazu vgl. WOPFNER, Bergbauernbuch, 2. Bd., S. 382 f; Diese Forderungen wurden bei einer Bauernversammlung der Gerichte Kaltern, Neumarkt und Lana erhoben. WOPFNER, Bergbauernbuch, S. 383)
Festzuhalten bleibt vor allem, dass die Idee, dass die Gemeinden eigenständige – vom Staat unabhängige – Gebilde seien, die mit unantastbaren Rechten ausgestattet seien, zum Bestandteil der bürgerlichen Ideologie und Revolution des Jahres 1848 zählte und sowohl von konservativer als auch von liberaler Seite unterstützt wurde. (Zu den bereits seit 1842 in einigen Landtagen diskutierten diesbezüglichen Forderungen und den im Revolutionsjahr sichtbaren Initiativen vgl. KLABOUCH, Gemeindeselbstverwaltung, S. 14 ff)
Es ist hier nicht der Platz, um dieses Provisorische Gemeindegesetz in aller Ausführlichkeit zu erörtern, vielmehr sollen nur die wichtigsten Grundsätze erwähnt werden. Wie die Tiroler Verordnung von 1819 schuf dieses Gemeindegesetz Regelungen für alle Gemeinden, ohne Rücksicht auf ihren städtischen oder ländlichen Charakter. Allerdings wurde das Prinzip der Einheitsgemeinde nicht völlig verwirklicht, denn gemäß § 6 konnten für bedeutendere Städte – wie vor allem die Landeshaupt- und Kreisstädte – eigene Gemeindeverfassungen erlassen werden. (Tatsächlich wurden in den darauf folgenden Jahren für diverse Städte – so auch für die Tiroler Städte Innsbruck, Bozen und Trient – Gemeindeordnungen erlassen. Dazu vgl. OSTROW, Lexikon, 1. Bd., S. 230)
Erstmals in einer österreichischen Rechtsnorm wurde der Begriff der „Ortsgemeinde“ verwendet. Denn nach diesem Gesetz war an sich daneben auch die Schaffung sogenannter Bezirks- und Kreisgemeinden geplant, die dann aber nicht realisiert wurden. Ausdrücklicher Anknüpfungspunkt für die Errichtung der Ortsgemeinden war die Katastral-Gemeinde, denn § 1 hält fest: „Unter der Ortsgemeinde versteht man in der Regel die als selbständiges Ganze vermessene Katastral-Gemeinde“. Mehrere Katastral-Gemeinden bildeten faktisch schon in vielen Teilen des Landes eine einzige Gemeinde, konnten sich aber nach § 3 auch künftig zu einer einzigen Ortsgemeinde vereinigen. (OBERNDORFER, Gemeinderecht, S. 44. Die Übernahme der Grenzen der Katastralgemeinden wurde vielfach kritisiert, weil diese seinerzeit vor allem aus vermessungstechnischen Gründen gebildet worden waren. Dazu vgl. GUMPLOWICZ, Staatsrecht, S. 215; REDLICH, Grundzüge, S. 92 f) Da allerdings in Tirol zum damaligen Zeitpunkt keine Katastral-Gemeinden bestanden, musste hier auf die im Rahmen der Tiroler Gemeinderegulierung von 1819 festgelegten Grenzen zurückgegriffen werden. (Das wurde ausdrücklich bestätigt durch das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 30. Juni 1906, Z. 6589. BUDWINSKI, Sammlung, 1906, Nr. 4556, S. 834 ff. Dazu vgl. HOFMANN, Handbuch, I. Bd., S. 33; MISCHLER-ULBRICH, Staatswörterbuch, 2. Bd., S. 316)
Während man also bisher in den österreichischen Rechtsvorschriften durchwegs immer nur von „Gemeinde“ gesprochen hatte, entschied man sich jetzt für eine Differenzierung dieser Bezeichnung: Einerseits, weil man eben vorhatte dieses Etikett „Gemeinde“ auch für die neu zu schaffenden Bezirks- und Kreisgemeinden zu verwenden. Gleichzeitig hatte man sich andererseits entschlossen, neue adäquatere Grenzziehungen bei den Gemeinden zuzulassen. Die Grenzen der nunmehrigen „Ortsgemeinden“ mussten sich nicht mehr unbedingt mit den für das Steuerrecht und den Kataster relevanten Gemeindegrenzen decken. Man hätte natürlich auch die Kataster verändern und sofort an die neuen Grenzen anpassen können. Da diese Maßnahme jedoch einen unverhältnismäßig großen Aufwand bedeutet hätte, entschied man sich, den neuen Begriff „Katastral-Gemeinde“ offiziell einzuführen, um hier eine Differenzierung zu ermöglichen. Gemeinden mit einer größeren Einwohnerzahl konnten sich außerdem in „Fractionen“ teilen, wobei diese Fraktionen dann „zur Erleichterung der Verwaltung“ gewisse Angelegenheiten eigenständig besorgen konnten (§ 5). (Zur Stellung und Entwicklung der Fraktionen vgl. VEITER, Rechtsstellung, S. 488 ff. Zur allgemeinen Stellung von Teilgemeinden im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts vgl. BLODIG, Selbstverwaltung, S. 107 ff)
Das Gesetz unterschied in § 7 zwischen Gemeindebürgern und Gemeindeangehörigen. Gemeindebürger waren laut § 8 jene, die über Haus- oder Grundbesitz verfügten oder ein Gewerbe ausübten bzw. von der Gemeinde als solche anerkannt worden sind. Diese Kategorie entsprach also im Wesentlichen den Gemeinde-Mitgliedern nach der Tiroler Gemeindeordnung von 1819, wo ja dieselben Voraussetzungen erfüllt sein mussten. Daneben gab es aber noch die Gemeindeangehörigen, die gemäß § 10 entweder durch Geburt oder förmliche Aufnahme in den Gemeindeverband integriert werden konnten. Unter Fremden verstand man schließlich Personen, die sich nur in der Gemeinde aufhielten (§ 17). (Dazu vgl. GUMPLOWICZ, Staatsrecht, S. 215)
Im Unterschied zur Tiroler Verordnung von 1819 war auch ein repräsentatives Gemeindeorgan vorgesehen – nämlich der Gemeindeausschuss, der alle drei Jahre zu wählen war. Laut § 28 hatten alle Gemeindebürger und nur bestimmte Gemeindeangehörige (Pfarrer, Beamte, Offiziere, Lehrer, Akademiker) ein Wahlrecht zum Gemeindeausschuss. Dazu sollten zwei bis drei Wahlkörper eingerichtet werden, die nach der Höhe der Steuern und Abgaben gebildet wurden. Bei der Gestaltung des Wahlrechts wurde statt des im Revolutionsjahr geltenden gleichen Wahlrechts der bürgerlichen Wähler ein Dreiklassenwahlrecht auf Grund des Steuerzensus gesetzt. Damit erhielten die vermögenden bäuerlichen Schichten auf dem Land und das höhere Bürgertum in den Städten bestimmenden Einfluss, weil diese in den Augen der Regierung verlässlicher waren. (HOKE, Österreich, S. 383; KLABOUCH, Lokalverwaltung, S. 277)
Der Gemeindevorstand – bestehend aus dem Bürgermeister und mindestens zwei Gemeinderäten – war vom Gemeindeausschuss zu wählen (§ 58). Weiters hatte jede Gemeinde einen Gemeindekassier (§ 82) sowie ein zum Kanzleigeschäft fähiges Individuum (§ 83) zu bestellen. Hier lassen sich also durchaus große Ähnlichkeiten zur Tiroler Verordnung von 1819 feststellen, wo ja auch neben dem Gemeindevorsteher (vergleichbar mit dem Bürgermeister) zwei Gemeindeausschüsse, die nun als Gemeinderäte bezeichnet wurden, vorgesehen waren. Ebenso war der Posten des Gemeindekassiers in Tirol bereits üblich. Statt des in Tirol bisher üblichen Amtes eines Steuertreibers war jetzt allerdings ein Kanzleibeamter anzustellen.
Beim Eigentum der Gemeinde wurde im § 74 ausdrücklich auf die Unterscheidung zwischen dem Gemeindevermögen und dem Gemeindegut aufmerksam gemacht. Wie bereits ausdrücklich erwähnt, waren diese beiden Rechtsbegriffe schon seit 1811 im § 288 des ABGB verankert, weshalb eine nochmalige Definition unterbleiben konnte.
Ein ganz zentraler und völlig neuer Begriff des Gesetzes war der natürliche Wirkungskreis (§§ 71 – 125). Darunter verstand man alle Angelegenheiten, die unmittelbar das Interesse der Gemeinde berührten und innerhalb ihrer Grenzen vollständig durchführbar waren. Davon zu unterscheiden war der übertragene Wirkungskreis (§§ 126 – 141) – also jene Kompetenzen, die der Gemeinde vom Staat zugewiesen wurden, wie etwa die Bereiche Steuereinhebung, Rekrutierung oder Fremdenpolizei. Nur in den zuletzt genannten Angelegenheiten waren die Gemeindeorgane weisungsgebunden, ansonsten konnten sie weisungsfrei und damit ohne Einflussmöglichkeiten der übrigen staatlichen Verwaltung agieren. Vorgesehen waren nur Kontrollrechte der übergeordneten Selbstverwaltungsinstanzen – nämlich der Bezirks- und Kreisgemeinden (§§ 142 – 177). Wie schon erwähnt, wurde die Schaffung von Bezirks- und Kreisgemeinden nicht realisiert. Diese Form von Gemeinden wäre tatsächlich eine völlige Neuerung gewesen. Gemäß § 142 hätten sämtliche Ortsgemeinden eines Bezirkes die Bezirksgemeinde bilden sollen, um im übergeordneten Sinne die Interessen des Bezirkes zu beraten. Analog dazu hätten dann laut § 159 alle Bezirksgemeinden eines Kreises die Kreisgemeinde bilden sollen. Da diese Körperschaften aber in der Folge nicht realisiert wurden, wurden die Gemeinden auch hinsichtlich des natürlichen Wirkungskreises den übergeordneten Behörden unterstellt und damit auch diesbezüglich in den gesamtstaatlichen Verwaltungsapparat eingebunden, womit dieses ganz zentrale Element der Selbstverwaltung verwässert wurde. (Diese Gemeindetypen waren auch in § 34 der Oktroyierten Märzverfassung vorgesehen. Dazu vgl. BRAUNEDER, Verfassungsentwicklung, S. 134 f; HOKE, Österreich, S. 382 f)
Aus: Helmut Gebhardt, Von der Tiroler Gemeinderegulierung 1819 bis zur TGO 1866 – Zur Geschichte des öffentlich-rechtlichen Gemeindebegriffs, in: Kohl/Oberhofer/ Pernthaler/Raber (Hg), Die Agrargemeinschaften in Westösterreich. Gemeinschaftsgut und Einzeleigentum (2011) Seiten 121ff
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